Kathrin Wildenberger / ZwischenLand / Leseprobe

Exposé

 

 Diese Geschichte erzählt vom Zwischenleben im Zwischenland.

Frühjahr 1990.

In einem kleinen Ort im Südharz wünscht sich die die 16jährige Brit den Westen herbei, aber sie hat Angst davor, dass „nichts von uns übrig bleibt“. Sie fühlt sich allein gelassen von ihren Eltern, überwirft sich mit ihrem Vater. Ob sie jemals wieder in die Schule gehen will, weiß sie nicht. Brit liebt The Cure, und Jonny, der Robert Smith ähnelt, wärmt sie. Mit ihm kann sie gemeinsam traurig sein. Doch er zieht sich mehr und mehr in Schwermut zurück. Ist das Dasein auf der Jonny-Insel, in Langsamkeit, Dunkelheit und Melancholie das, was Brit sich wünscht?

Die 19jährige Ania, Brits Schwester, zieht nach dem Ende ihrer Beziehung zu Bernd in ein besetztes Haus im Leipziger Süden und arbeitet als Krankenschwester in einem kirchlichen Krankenhaus. Als Montagsdemonstrantin der ersten Stunde fällt es Ania schwer, ihren Traum von einer anderen, neuen DDR aufzugeben. Die Patienten und ihre Lebensgeschichten geben ihr das verlorene Heimatgefühl zurück, in ihrer neuen Wohngemeinschaft fühlt sie sich zu Hause. Ania lebt mit Sascha, dem russischen Maler und Alex, dem Westberliner Journalisten ihren Traum von einer offeneren Beziehung. Doch sie kann ihre große Liebe Bernd nicht vergessen.

Sie wird schwanger. Wer der beiden Männer der Vater ist, weiß sie nicht. Möchte sie das Kind bekommen?

Suse (19), Anias Freundin versucht nach ihrer Flucht aus der DDR im Sommer 1989, in einem nordwestdeutschen Dorf anzukommen. Eigentlich ist alles so, wie sie es sich erträumt hat. Aber wie sie es auch dreht und wendet: „Suse im Westen“ fühlt sich nicht richtig an. Sie lässt ihren Freund Rüdiger und den Traum vom Zusammenleben im Eigenheim, der zum Albtraum geworden ist, hinter sich und wagt einen Neuanfang in Berlin.

Im Laufe des Sommers 1990 wird das verfallene und besetzte Haus im „Leipziger Montmartre“ auch für Brit und Suse zum Zufluchtsort.

Zusammen mit Sascha und Alex schaffen sich die drei jungen Frauen ihre eigene Welt. Doch ihre Gemeinschaft ist fragiler, als sie glauben.

Überfälle von Neonazis bedrohen das friedliche Zusammenleben. Und als Ania heraus findet, dass Alex under cover recherchiert und eine Artikelserie über die Bewohner und ihr Leben in einer kleinen Berliner Zeitung veröffentlicht, zerbricht die Gemeinschaft.

 

Ania, Brit und Suse nutzen ihre Chance und stricken ihr Leben im Zwischenland neu. Brits Beziehung zu Jonny zerbricht, sie geht wieder zur Schule, möchte danach ein Jahr als Au Pair-Mädchen in Frankreich verbringen. Ania bekommt ihr Kind nicht. Sie bricht alle Brücken hinter sich ab, gibt ihrem Fernweh nach und bewirbt sich als Krankenschwester auf einem Kreuzfahrtschiff.

Suse trennt sich endgültig von Rüdiger und ihrem Leben im Westen und wird in Berlin Mitinhaberin einer Taschen-Werkstatt.

Ankommen? Wenn ja, wo? Gehen? Wenn ja, wohin? Alles ist offen. So vieles scheint möglich. Aber was ist Freiheit eigentlich?

Verheißung? Erfüllung? Verantwortung? Chaos? Oder Last?

Die DDR, das Kindheitsland, löst sich auf. Ein neues Land gibt es noch nicht. Vieles scheint möglich. Alles kann sich ändern. Jederzeit.

Erwachsenwerden in Umbruchzeiten – so wie die Gesellschaft der DDR nach der friedlichen Revolution 1989/1990 zerbricht und ein anderes Land entsteht, ändert sich auch das Leben von Brit, Ania und Suse. Im Verlauf der Handlung lernen sie, ihren Gefühlen zu vertrauen, sich auf sich selbst zu besinnen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Der Text wird episodisch, aus Sicht von Ania, Brit und Suse in Ich-Perspektive und im Präsens erzählt. Ergänzend erzählen Auszüge aus Alex´ Reportagen von den Hausbewohnern und schildern das Zusammenleben aus der Perspektive eines Beobachters, der zum Beteiligten wird.

Der Roman ist in der Rohfassung fertig gestellt. Er umfasst etwa 270 Normseiten und richtet sich an eine Leserschaft 16+.  

 

 

Leseprobe

 

Der Traum ist aus… aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“

(Rio Reiser)

 

Ania, Mittwoch, 14. März 1990

 

März, Frühling, ein heller Tag.

Ich steige aus der überfüllten Straßenbahn, halte mein Gesicht in die Sonne. Die anderen strömen an mir vorbei, über die Ampel, mitten hinein in das Menschenmeer auf dem Karl-Marx-Platz.

Fahnen über Fahnen – schwarz-rot-gold, soweit ich blicken kann. „Helmut! Helmut!“, schallt es über den Platz. Eine gute halbe Stunde wird es noch dauern, bis sich der Bundeskanzler auf der Bühne vor der Leipziger Oper zeigen wird.

Ich bleibe am Haltestellengeländer stehen, hole die Tüte aus der Tasche. Als ich die Fahne auseinander falte, kommt mir eine Staubwolke entgegen. Ich huste und lege mir das steife Tuch so um die Schultern, dass das Emblem auf meinem Rücken zu sehen ist.

Ich fühle mich, als hätte ich mich ausgezogen, schaue mich nicht um, reihe mich in den Strom der Menschen ein.

An der Ampel ruft jemand hinter mir: „Hau ab, du rote Sau!“

Ich zwinge mich, nach vorn zu schauen, den Rücken gerade zu halten. So weit ich sehen kann, ist meine Fahne die einzige mit Emblem. Aber alles ist möglich, oder? Vielleicht geben sich die anderen noch zu erkennen. Vielleicht braucht es nur jemanden, der den Anfang macht.

Die Menschen um mich herum halten Plastetüten, Kugelschreiber, Broschüren in den Händen, auch hier schwarz-rot-gold und die Logos der CDU und der Allianz für Deutschland. Die Autos, aus denen all das verteilt wird, ragen wie Inseln aus dem Menschenmeer heraus, auf ihren Dächern stehen Kameraleute.

Bernd kann ich schon von weitem sehen, er sitzt mit dem Fotoapparat in den Händen auf einer der Figuren des Mendebrunnens und schaut in meine Richtung. Ich nehme die Fahne von den Schultern, schwenke sie. Er scheint mich zu erkennen, doch er lächelt nicht.

Die gilt doch nicht mehr“, spricht mich eine ältere Frau an. „Ich hab eine Schere dabei, sollen wir´s zurechtschneiden?“

Ich sage nichts und lege mir die Fahne wieder um die Schultern.

Es ist unsere Familienfahne, angeschafft für den Ersten Mai und den Siebenten Oktober, sie ist ausgeblichen, knitterig und mindestens so alt wie ich. Ein Erinnerungsstück. Ich trage ein Erinnerungsstück, das zum Symbol geworden ist, nicht für das, wofür es ursprünglich stand, sondern für das, was ich mir wünsche, und deshalb habe ich in Blockschrift über das Emblem „Unser Land“ geschrieben und drum herum: „Frei. Anders. Eigenständig.“ Ich habe die Fahne aus der Vertikoschublade im Dachbodenzimmer meiner Eltern mitgenommen, als ich zu Vaters Geburtstag dort war. Niemand wird sie vermissen, da bin ich sicher.

Bist du von vorgestern oder was?“

Ein Typ mit Schnurbart knufft mich in den Oberarm. Es tut weh, doch ich lasse mir nichts anmerken, und er drängt sich an mir vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich bin jetzt mittendrin, versuche, an der Litfaßsäule vorm Gewandhaus stehen zu bleiben, habe keine Chance, treibe weiter bis zu einer Straßenlaterne vor der nächsten Ladenpassage. Ein paar Meter vor mir sehe ich Magnus´ Lockenmähne, seinen karierten Schal. Ich rufe, doch er dreht sich nicht um.

Ich lehne mich an das kühle Metall. Bernd habe ich aus den Augen verloren. Die Bühne vor der Oper ist so weit weg, dass ich den Bundeskanzler nur als Männchen sehen werde, harmlos, unangreifbar.

Vom Kroch-Hochhaus her gongt es. Siebzehn Uhr. Eine Jubelwelle rollt auf uns zu. Die um mich herum reißen die Arme hoch und johlen. Der Mast der Laterne im Rücken gibt mir Halt, ich pfeife auf zwei Fingern, es macht Spaß, und allein bin ich auch nicht mehr, denn von überall her kommen Pfiffe.

Da packt mich jemand am Arm und zieht mich zur Seite, immer weiter, aus der Menge heraus, unter das Dach der Ladenpassage. Bernd greift mit einer Kraft zu, die mich überrascht, ich reiße mich los, er packt mich wieder, mit diesem harten Gesicht, ich hasse es, wenn er mich so ansieht und noch mehr, was er tut.

Lass mich los!“

Die Fahne rutscht von meinen Schultern. Ich presse meine Fäuste gegen seine Brust. Er hält mir stand, greift meine Handgelenke und drückt sie nach unten. Seine Augen funkeln mich durch die Brillengläser an, blau und kalt. „Bist du lebensmüde?“

Ich kann selbst auf mich aufpassen!“

Dann tu es!“ Er lässt mich los und geht, verschwindet wieder zwischen den Menschen, und ich bleibe zurück, allein, und als ich die Fahne aufheben will, ist sie verschwunden.

Hinter mir Gelächter. Die zwei Männer habe ich schon in der Straßenbahn gesehen. Der eine hält meine Fahne an einem Zipfel hoch und brennt sie mit einem Feuerzeug an.

Halt!“, schreie ich.

Die Typen schauen auf und lachen wieder, sie lachen mich aus, und ich sehe das Taschenmesser in der Hand des einen und gehe ein paar Schritte zurück, spüre hinter mir eine Hauswand, drücke mich dagegen, in den Schatten, meinen Herzschlag im Ohr.

Brennt nicht mal, der Mist!“, ruft der Typ mit dem Feuerzeug.

Sein Kumpel sticht mit dem Messer in den Stoff hinein und zerfetzt das Emblem, schneidet es heraus, gibt es an den anderen weiter, der zündet den Fetzen an, der auch nicht brennen will, lässt ihn fallen, tritt darauf herum.

Erledigt“, ruft er und tritt noch einmal drauf.

Sein Kumpel lässt die zerfetzte Fahne vor mir auf den Boden fallen. Er sieht an mir vorbei und zieht die Nase hoch. Mit seinem faltigen Gesicht und den grauen Haaren könnte er mein Vater sein. Es stinkt verbrannt. Der Typ steckt sich eine Zigarette an, bringt die engen Jeans in Position und geht seinem Kumpel nach.

Alles in Ordnung?“, fragt mich ein weißhaariger Mann, schaut auf die Reste der Fahne und sagt: „Das hatten wir schon mal. Vor dem Krieg.“

Ich bücke mich, hebe die Fetzen auf, lasse sie wieder fallen.

Seien Sie froh, dass nicht mehr passiert ist.“

Ich nicke wieder, kriege kein Wort raus.

Kohl ist inzwischen auf die Bühne gekommen, im dunklen Anzug. Der Wind trägt seine Worte weg, und doch geht alles, was er ins Mikrofon sagt, in Jubel und Beifall unter. Allianz. Leipzig. Deutschland. Brüder und Schwestern. Neue Bundesländer.

Warum bringst du dich so in Gefahr, Ania?“

Weil ich was tun muss!“ Ich liege auf der Matratze, die Arme unter dem Kopf verschränkt.

Mach so was nie wieder!“ Bernd steht am offenen Fenster, er raucht hastig.

Ich setze mich auf. „Aber nur so können wir was verändern.“

Und wo willst du anfangen? Wenn wir schon wieder in einer Realität leben, die wir nicht wollen.“ Er schmeißt die Kippe aus dem Fenster.

Vielleicht geschieht ja wieder ein Wunder. Wir müssen nur fest daran glauben.“

Er atmet laut aus und lehnt sich ans Fensterbrett, legt den Kopf in den Nacken.

Stille.

Dann wieder seine Stimme: „Ich wandere aus.“

Die Worte füllen den Raum. „Nach Kanada. Oder nach Schweden.“

Seine Silhouette am Fenster bewegt sich nicht.

Und was ist mit mir, mit uns?“, frage ich leise.

Komm doch mit. Wenn du willst.“

Ich seufze, lasse mich zurück auf die Matratze fallen. „Über den Süden können wir reden, Italien, Spanien, irgendwann mal, vielleicht.“

Er winkt ab. „Ein paar Journalisten von drüben sind heute in der Redaktion aufgetaucht und haben gefragt, ob ich Revolutionsfotos hätte. Ich hab ihnen meine Demobilder gezeigt. Die waren nicht dramatisch genug. Angst wollten die sehen. Und Action!“

Er wird mit jedem Wort lauter.

Weißt du, was die mit uns machen? Die zwingen uns ihre Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft auf, ihren Konsumwahnsinn, überschwemmen uns mit Müll. Und die Leute lassen es zu. Die wollen es so.“

Er löst sich vom Fensterbrett, läuft auf und ab.

Wir haben die Tür aufgemacht im Herbst. Und denen fällt nichts anderes ein, als in den nächsten Käfig zu tappen.“

Aber die Tür bleibt offen, Bernd.“ Ich versuche, ruhig zu bleiben. „Und jeder kann am Sonntag wählen, was er will. Ist das nichts?“

Es ist zu wenig!“

Er lehnt sich wieder ans Fensterbrett. Ich höre ihn atmen. Es passiert selten, dass er so aus sich heraus geht. Ich stehe auf, gehe zu ihm, lehne mich an ihn. Sein schmaler Brustkorb hebt und senkt sich, er trägt fast nichts, riecht nach frischem Schweiß, und ich lehne meine Stirn an seine Schulter und streiche mit dem Handrücken langsam vom Bauchnabel abwärts, über den Bund der engen Shorts, halte inne, als ich die Schwellung spüre, sie wächst schnell, und er packt mich und hebt mich aufs Fensterbrett und presst sich wieder an mich. Wir ziehen aus, was uns trennt, und ich lasse mich fallen in seine Wärme, seinen Geruch, die Weite seines Mundes und den Geschmack seiner Haut.

 

Brit, Sonnabend, 17. März 1990

 

Wie bei Nele bitte“, sag ich zu Neles Schwester.

Sie nimmt meine Locken in die Hände, hält sie hoch, guckt mich im Spiegel an: „Bist du sicher, Brit?“

Ich nicke. Einmal und nochmal. Nele, die hinter uns auf dem Badewannenrand hockt, grinst, pustet ihren Pony aus der Stirn. Ein bisschen komisch ist mir schon. Hat ein ganzes Jahr gedauert, bis meine Haare so lang waren. Aber ich bin nicht mehr Brit-Püppi. Und das sollen alle sehen.

Neles Schwester nimmt das Handtuch von meinen Schultern. Legt den Kamm zur Seite. Meine Haare sind nass und glatt. Riechen gut. Nach Apfelsinenshampoo. Wahrscheinlich aus dem Shop. Oder gleich aus dem Westen.

Neles Schwester guckt mich nochmal im Spiegel an. Dann nimmt sie die Schere. Sie ist eine gute Friseuse. Das sagt nicht nur Nele. Viele aus dem Dorf gehen zu ihr. Sie arbeitet eigentlich in einem Salon in der Stadt. Privat frisiert sie nur abends und am Wochenende. Und nicht jeden. Für mich ist das perfekt. Muss die Haare ja öfter nachschneiden lassen. Wenn sie dann kurz sind.

Ich mach die Augen zu. Hör die Schere. Kein Ritsch-Ratsch. Eher ein leises Klick-Klack. Und ein Ziepen. Immer wieder. Aus dem Kofferradio quatscht es. DT-64. Ich kenn die Stimme des Moderators. Aber ich kann nicht verstehen, was er sagt, weil der Badlüfter rasselt. Warum bringen die am Samstagnachmittag keine Musik?

Jetzt hör ich den Fön. Warme Luft auf meinem Kopf. Im Gesicht.

Ich denk an Jonny. Ganz fest. Nochmal. Ganz fest. An den B-Club. Und wie er mich angucken wird. Und staunen.

Ich trau mich und mach die Augen auf. Seh mein Gesicht im Spiegel. So nackt. So groß. So anders.

Gar nicht schlecht“, sagt Neles Schwester.

Cool, Britti!“

Nele ist plötzlich hinter mir. Unsere beiden Gesichter, Wange an Wange, im Spiegel.

Für den Anfang wirklich nicht schlecht, denk ich. Atme auf. Guck nicht nach unten, auf das Linoleum, wo meine Haare liegen. Setz mich gerade hin. Schau Neles Schwester an.

Die Farbe auch wie bei Nele. Geht das?“

Neles Schwester guckt auf die Uhr.

Erst mal nur tönen? So zum Test? Kostet fünf Mark extra. Dann seht ihr aus wie Schwestern!“

Passt doch!“ Ich zwinkere in den Spiegel, Richtung Nele.

Grufti-Schwestern!“, Neles Schwester grinst.

Nun beschwer dich noch! Wir könnten auch ne Glatze bei Dir bestellen.“

Ich seh im Spiegel, wie Nele einen Schluck aus ihrer Colaflasche nimmt, am Lautstärkeknopf vom Radio dreht. Anne Clark. Mein Herz macht einen Sprung.

Noch was?“, Neles Schwester rührt eine schwarze Pampe in einem Töpfchen zusammen.

Das würde Simon sicher cool finden, Britti.“

Ich hol meinen Arm unterm Frisierumhang vor, zeig Nele einen Vogel.

Na, schräg drauf ist der schon.“ Neles Schwester legt mir einen zweiten Umhang auf die Schultern. „So´n halber Nazi.“

Nazi? Simon?“

Also, sorry, ja? Ich hab den gestern mit ner Bomberjacke gesehen, da stand DEUTSCHLAND hinten drauf.“

Bomberjacke! Das ist ne Lederjacke!“

Und bloß weil er für Deutschland ist, ist er noch lange kein Nazi. Das sag ich nicht, das denk ich nur. So für mich.

Warum sagt die so was? Sie kennt ihn doch gar nicht.

Neles Schwester guckt mir im Spiegel wieder in die Augen. Zu lang. Dann schmiert sie mir mit einem Spatel die Pampe auf den Kopf. „Ganz schön heftig, das Schwarz, bei deinem Hauttyp.“

Jonny findet´s sicher schick.“

Ach komm, Nele!“

Zu spät. Mein Gesicht läuft rot an.

Ist er süß?“, fragt Neles Schwester.

Geht so.“ Ich hör mein Herz in den Ohren. „Robert Smith ist cooler.“

 

Suse, Sonntag, 18. März 1990

 

Vielleicht wäre das ein Geschäft für mich: Post hin und her fahren, Telefonate vermitteln. Irgend so was. Dann würden die Briefe zu Ania nicht so lange brauchen. Und ich könnte sie anrufen, auch jetzt, in diesem Moment, wo wir vor dem Fernseher sitzen, auf die erste Wahl-Hochrechnung warten.

Zum Geburtstag habe ich ihr ein Päckchen geschickt.

Happy Birthday, Ania Anni Annuschka Hochlinger“, habe ich ihr gesungen, so wie an jedem fünfundzwanzigsten Februar seit sechzehn Jahren. Auf die Glückwunschkarte habe ich einen Kuss gedrückt, ein orangefarbenes Glitzertuch und ihre Lieblingsschokolade in einen Karton gepackt, alles mit Geschenkbändchen verschnürt.

Neunzehn ist sie geworden, meine beste Freundin. Ein Vierteljahr vor mir. So war das schon immer. Und so wird es bleiben. Schön ist das. Auch wenn ich noch nicht mal weiß, ob das Päckchen bei ihr angekommen ist.

Auf dem Bildschirm eine Grafik. Der schwarze Balken am höchsten. Rüdiger springt auf.

Über vierzig Prozent CDU! Suschen, jetzt mach ich einen Sekt auf!“

Wann hat er mich das letzte Mal Suschen genannt? Er stößt sein Glas gegen meine Teetasse, drückt mir einen Bierkuss auf die Lippen. Ich trinke den warmen Tee. In meinem Bauch kribbelt es, auch ohne Sekt.

Wie es Ania jetzt wohl geht? Sie hat sich immer eine neue, andere DDR gewünscht. Aber wie soll die aussehen? Und wer soll da mitmachen? Wenn die Mauer nun auf ist. Der Westen so nah. Wenn man einfach rübergehen kann, Geld verdienen, reisen. All das.

Ein anderes Land? Solche Experimente sind doch sinnlos. Das hier, das funktioniert, das sehe ich jeden Tag. Auch wenn es Nachteile hat. Aber wenn ich dran denke, wie es vor einem Jahr war. Grau und dunkel und still. Nichts hat sich bewegt. Wie unter einer Käseglocke. Man konnte nur ausbrechen oder verschimmeln.

Ich bin ausgebrochen. Ania auch. Auf ihre Weise eben. Jeder von uns ist auf seine Weise mit all dem umgegangen.

He, hältst du mal?“

Rüdiger drückt mir zwei Sektgläser in die Hand, öffnet die Flasche. Der Korken fliegt an die Zimmerdecke. Schaum fließt über meine Finger, tropft auf den Teppich.

Es kommt, wie es kommen soll, Suschen“, sagt Rüdiger und trinkt sein Glas in einem Zug leer.

Später laufe ich mit Tobi, dem Terrier von Rüdigers Tante durchs Dorf. Lüfte meinen Kopf aus. Mache Ordnung in meinen Gedanken. Versuche es wenigstens.

Ein wieder vereinigtes Land. So unterschiedlich wie wir sind. Was für eine Aufgabe das ist, spüre ich jeden Tag. Es wird Frühling, und ich fühle mich immer noch fremd hier. Nach über einem halben Jahr. Auch deshalb fehlt mir Ania so sehr. Manchmal rede ich mit ihr, in Gedanken, vorm Einschlafen oder wenn ich spazieren gehe, so wie jetzt.

Ob sie die Wahlergebnisse schon weiß? Vielleicht hat sie Spätdienst? Aber selbst dann – sie haben ja einen Fernsehraum. Und ein Radio im Stationszimmer. Und die Patienten werden alles mitkriegen und den Schwestern erzählen.

Tobi wedelt mit dem Schwanz und zieht an der Leine. Will zur Pferdekoppel. Ich zerre ihn zurück auf die Straße. Kein Mensch außer mir draußen. Alle hocken vor der Glotze. Tatortzeit. Rüdiger guckt sich irgend einen Actionkram auf Video an. Mampft Thunfisch-Pizza. Ich wollte nichts davon. Lieber raus gehen. Futtern ist herrlich, aber gegen das Heimweh hilft es nicht. Und wenn ich jetzt zu Hause geblieben wäre, dann hätte er wieder damit angefangen. Mich gefragt, was ich davon halte. Dabei ist alles längst entschieden.

Tobi schnüffelt an seiner Lieblings-Straßenlaterne. Dann hebt er sein Bein.

Morgen ist Montag. Mein Auszeit-Tag. Die Stadt wartet, der Kurs, Wegener.

Komm, du Streuner!“ Ich ziehe Tobi weiter, habe nun doch Lust, zur Pferdekoppel zu laufen, über den Feldweg zu den Wiesen.

Tobi hört mir zu. Darauf kann ich mich verlassen. Und manches versteht er, ohne dass ich es ihm sagen muss. Auch wie sehr ich mich freue, auf morgen, auf Osnabrück. Die Leute im Kurs. Und vor allem auf den Wegener mit seinen Rehaugen und dem drolligen Dialekt. Raus kommen. Andere Leute. Andere Gespräche. Selbst im Blumenladen trifft man immer die Gleichen.

Manchmal denke ich, ich hätte gar nicht weg gehen müssen. Dorf ist Dorf, ob Ost oder West.

Sonntagabendstill ist es, so still, dass ich höre, wie beim Laufen meine Oberschenkel in den Jeans aneinander reiben. Zugenommen habe ich wieder. Leider. Dir geht’s zu gut, hätte Paps gesagt. Und wem es zu gut geht, der ist nicht glücklich. Weil dann nichts mehr kommen kann. Weil es dann nur schlechter werden kann.

Ist das jetzt undankbar? Ich hatte doch so viel Glück.

Und morgen fahre ich in die Stadt.

 

Brit, Sonntag, 18. März 1990

 

Papa hört Beethoven. In voller Lautstärke.

Von wegen Rücksicht und gegenseitig. Freude schöner Götterfunken – ich kann´s bald mitsingen.

Was soll man da machen? Ich leg Annis The Cure-Kassette rein und dreh auf volle Lautstärke. BOYS DON´T CRY.

Die Tür geht auf. Ich blas den Rauch aus dem Fenster, wedel ein bisschen nach. Lass die Zigarette aufs Vordach fallen, zieh mir das Nachthemd über die Knie.

Er kommt ins Zimmer, stellt die Musik ab. Vom Flur her immer noch das Beethoven-Gedudel.

Guten Morgen. Oder lieber Gute Nacht?“

Sein Atem riecht nach Bier. Früh um zehn. Immerhin hat er die frischen Sachen an, die Mama ihm raus gelegt hat. Zur Feier des Tages keine Jägerkluft. Das ist doch schon mal was.

Warst du überhaupt im Bett?“

Er lehnt am Schreibtisch, guckt mich von der Seite an. Ich schau weiter aus dem Fenster, frier, aber nur ein bisschen.

Du hast geraucht!“

Und du Bier getrunken.“

Jetzt werd nicht frech, Fräulein. Also?“

Na ein, zwei gestern Abend.“

Das glaubst du doch selber nicht.“

Ich zwing mich, ihm in die Augen zu gucken. Er kann mir nix beweisen.

Der Wind weht durchs offene Fenster und bauscht mein Nachthemd. Er greift mich am Arm, zieht mich von der Fensterbank. Ich mach mich los, er knallt das Fenster zu, verriegelt es. „ Und wisch dir die Farbe aus dem Gesicht!“

Ich verdreh die Augen, geh an ihm vorbei in den Flur und die Treppe runter ins Bad. Die Kippen draußen auf dem Vordach hat er nicht gesehen. Hoffe ich.

Oma klopft an die Badtür. Sie steckt in einer Kölnischwasser-Duftwolke. Die Lockenwickler sind raus, kein Haarnetz mehr, und sie hat ihr graues Kostüm angezogen. Auf ihren Lippen rosa Farbe.

So“, sagt sie. „Jetzt wähle ich wieder SPD.“

Schön siehst du aus, Oma.“

Ich hoffe, deine Mutter nimmt es mir nicht übel, aber ich habe immer SPD gewählt.“

Sie trippelt an mir vorbei, macht das Licht überm Spiegel an, dreht den Kopf hin und her, dieselt sich mit Dreiwettertaft ein.

In der Küche steht Frühstück. Und zieh dir was an, Mädchen.“

Die Tür klappt. Sie sind weg.

Ich gieß mir Pfefferminztee ein, geh die Treppe wieder hoch, drück auf die Play-Taste, spul vor.

LULLUBY.

Schieb den Lautstärkeregler wieder bis zum Anschlag.

Setz mich aufs Fensterbrett, hol die Zigarette aus der Gürteltasche. Riech dran. Leg meinen Mund drauf. Mach die Augen zu.

Der Song klingt aus, ich spring auf, drück die Repeat-Taste.

Hat was, dein Look“, hat er gesagt und mir beim Tanzen die Selbstgedrehte hinters Ohr geschoben.

Tanzen. Mit Jonny. Den ganzen Abend. Der Wahnsinn.

Um drei, hat er gesagt. Vor der Kaufhalle im Neutal. Ich muss also in einer halben Stunde den Bus in die Kreisstadt kriegen. Mittagsschlafzeit. Oma und Papa pennen. Ich schleich die Treppe runter.

Draußen ist es warm. Frühling. Richtiger, echter Frühling.

Na, Brit, diesmal ist die Mutti fürs Offizielle verantwortlich, was?“

Frau Mannher schließt das Hoftor auf, ihr Dackel zerrt an der Leine. „So ändern sich die Zeiten.“ Sie wartet nicht drauf, dass ich irgendwas sage, der Hund zieht sie rein in den Hof. Das Tor fällt zu.

Ich lauf die Straße runter, setz mir die Kopfhörer auf, drück die Play-Taste vom Walkman.

An jeder Ecke Wahlplakate. Eins bunter als das andere. Kaum mehr Platz dazwischen. Am Telegraphenmast neben der Garage klebt ein Flugblatt vom Neuen Forum „Paragraph 23 – kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Kann nur von Mama kommen. Wahrscheinlich hat sie es gestern Abend noch geklebt. Oder heute früh auf dem Weg zum Gemeindesaal.

Rothmanns kommen mir entgegen. Untergehakt. Er im Anzug mit Schlips, sie im Blümchenkleid und mit Perlenkette. Sie nickt mir zu und lächelt. Er guckt an mir vorbei. Ich bin sicher, die haben CDU gewählt. Wollen, dass der Westen schnell kommt. So wie die meisten hier im Dorf. Mama sagt, es soll so langsam wie möglich gehen. Sonst bleibt nichts mehr von uns übrig. Aber das geht ja gar nicht, oder? Dass nichts von uns bleibt, mein ich. Schließlich sind wir nun mal da. Und so, wie wir sind. Und der Westen – das ist einfach irre. Und eigentlich kaum auszuhalten.

Vor dem Gemeindesaal zwei Blumentöpfe mit Osterglocken. Die Tür offen. Noch ein bisschen Zeit, bis der Bus kommt. Soll ich rein gehen, Mama begrüßen? Sie muss die Wahllisten durchgucken und abhaken, wer schon da gewesen ist. Bestimmt hat sie rote Flecken am Hals, ihre Lesebrille auf. Kriegt mich gar nicht mit. Vielleicht ist sie aber auch noch sauer wegen meiner Haare. Sie hat gestern so getan, als hätt ich mir alles geschoren.

Glaub auch nicht, dass ihr mein blutroter Lippenstift gefällt. Erzähl ihr also erst gar nicht, dass ich ihn von Nele habe. Genau wie die Ohrringe. Und dass ich stolz drauf bin.

Setz mich lieber ins Wartehäuschen. Die Zigarette von Jonny hab ich immer noch in der Gürteltasche. Ich rauch sie erst dann, wenn ich wieder eine von ihm krieg. Falls es überhaupt so kommt.

Es grummelt im Bauch. Als würd ich meine Tage kriegen. Dabei ist es noch gar nicht soweit. Und seit ich die Pille nehme, ist es vorbei mit den Schmerzen. Eigentlich. Also die Aufregung. Und das nächste Klo ist im Gemeindesaal. Ich versuch, an was anderes zu denken. Meistens hilft das.

Dreh die Musik lauter. Immer noch The Cure. JUST LIKE HEAVEN. Krieg nicht genug davon.

Das silberne Schiff hält direkt vor mir. Ein Mercedes, wie ihn die Westberliner haben. Aber mit viel mehr Menschen drin. Sie krabbeln nacheinander raus. Es hört gar nicht auf. Und es sind Brinkes. Das glaub ich nicht. Ich glaub es einfach nicht.

Na, Brit, neues Outfit?“

Sabrina kommt auf mich zu, hält mir die Hand entgegen. An der anderen hat sie ihren Kleinen. Der hat dunkle Locken. Und wie er mich anguckt. Ich streichel ihm die Wange und geb Sabrina die Hand.

Warum kommt die zu mir? Sie ist mit Anni in eine Klasse gegangen, war ab und zu zur Nachhilfe bei uns, hat mit Anni Russisch und Mathe gepaukt. Sonst hatten wir nichts miteinander zu tun.

Wie geht’s deiner Schwester?“, fragt Sabrina.

Ich zuck mit den Schultern. „Ania ist in Leipzig. Nur noch selten hier.“

Was fragt die mich das? Was will die von mir? Und wo bleibt dieser blöde Bus?

Heute muss uns dein Vater nicht holen. Heute gehen wir freiwillig zur Wahl.“ Sabrinas Vater zwinkert, als hätt er einen Witz gemacht, guckt mich so komisch an. Was soll das? Soll er doch Papa anstarren, soll er ihn doch nerven, wenn er noch eine Rechnung mit ihm offen hat.

Der Bus kommt. Endlich. Ich steig ein, zahl, setz mich nach hinten ans Fenster. Die Brinkefamily bewegt sich Richtung Gemeindesaal. Sabrina hat den Kleinen auf dem Arm. Wie haben die nur alle in das Auto gepasst? Sechs Menschen, der Kleine extra, also sechseinhalb.

Ein paar von den Dorfjungs stehen um den Schlitten rum. Der glitzert in der Sonne. Als wär ein Ufo auf dem Dorfplatz gelandet. Oder der Westen höchstpersönlich.

Der Bus schaukelt aus dem Dorf raus. An den Schweineställen vorbei. Den Pferdekoppeln auf der anderen Straßenseite, wo das Gras schon grün ist. Noch drei Kilometer bis in die Stadt.

Immer diese alten Geschichten. Bei der letzten Wahl ist Papa nachmittags los gegangen, Richtung Neubaublock am Dorfrand, um die Brinkes zum Wählen zu überreden. Der Brinke hat ihn nicht rein gelassen, ihm die Tür vor der Nase zugeknallt.

Mein bester Traktorist“, hat Papa gesagt. „Und dann so was.“

Am nächsten Tag gab´s dann den Rüffel vom Parteisekretär. Für Papa, nicht für Brinke. Der war nie in der Partei, soweit ich weiß.

Fragt sich, wer da bei wem eine Rechnung offen hat. Ich will damit nix zu tun haben.

Der Bus fährt in die Stadt rein. Er wackelt immer doller und quietscht. Mir ist schlecht. Und immer noch dieses Grummeln im Bauch. Noch zwei Stationen, dann bin ich da.

 

Ania, Sonntag, 18. März 1990

 

Was soll ich nur machen? Weiß nicht, wohin mit mir.

Er ist weg. Seine Kraxe, die Klamotten aus dem Regal, ein paar seiner Bücher, die Fotoausrüstung, seine Waschtasche.

Auf dem Schreibtisch ein Zettel:

Vagabund bleibt Vagabund. Verzeih. Bernd.“

Krakelig und schwer zu lesen, eben mal so hin gekliert.

Es ist kurz vor Mitternacht. Maik hört nebenan Punk. Das ganze Haus wackelt. Vielleicht sollte ich mitpogen. Nicht mal weinen kann ich, bin wie erstarrt, versuche, einen Brief an Suse zu schreiben, aber ich kann mich nicht rühren. Zur Telefonzelle könnte ich laufen, Suse anrufen, um diese Zeit komme ich vielleicht durch, kriege eine Verbindung, aber das geht nicht, jetzt, mitten in der Nacht, auch wenn es ein Notfall ist.

Er ist ohne Abschied gegangen, er wollte nicht, dass ich mitkomme. Wenn es anders wäre, hätte er gewartet. Er hätte gewartet, bis ich nach Hause komme und mich dann gefragt. Dann hätte ich mich entscheiden können. Ich hätte wenigstens eine Chance gehabt.

Es muss alles ganz schnell gegangen sein. Heute Nachmittag, da war er doch noch da, wir sind zusammen aus dem Haus gegangen, er in die Redaktion, ich ins Krankenhaus. Arbeiten am Wahltag. Gelacht haben wir darüber. Und alles war noch in Ordnung, oder? Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich mehr.

Alles ist durcheinander in mir, großes, großes Durcheinander.

Meine Brust tut weh, der Bauch. Wenn ich doch nur endlich heulen könnte.

Im Wohnzimmerregal müsste noch eine Whiskyflasche sein.

Das ist sie, die Strafe.

Großmutter sagt: „Man bezahlt für alles im Leben.“

Er hat mich Stück für Stück verlassen. Und ich habe es die ganze Zeit gewusst.

 

Brit, Sonntag, 18. März 1990

 

Jonny wartet auf mich. Ich seh es schon von weitem. Trotz der Wärme hat er den Mantel an. Ich stolpere aus dem Bus. Er tritt die Zigarette aus. Streichelt meinen Nacken. Sein Mund warm auf meiner Wange.

Komm“, sagt er und nimmt meine Hand.

Es dämmert. Die Sonne steht tief, macht ein warmes, orangefarbenes Licht. Wir sitzen auf den Stufen der kleinen Kapelle. Gucken auf die Hügel hinter dem Friedhofszaun, die noch braun sind vom Winter.

Du Mädchen aus den Bergen“, sagt Jonny. Schaut mich von der Seite an.

Ich muss lachen. „Berge? Da musst du schon ein bisschen weiter in den Harz rein fahren. Nach Thale. Oder nach Stolberg.“

Das hier ist viel schöner“, sagt er. Schaut mich immer noch von der Seite an.

Friedhofsstille. Ruhe. Die Zigarette vom Samstag haben wir zusammen geraucht. Er hat mir erzählt, dass er hierher kommt, weil er Ruhe sucht. Alles, was da draußen ist, vergessen will. In der Stille leben. Die Stille lieben.

Lieben. Ja.

Dieser Flash, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Im Januar, es lag Schnee, und ich war zum ersten Mal mit Nele im B-Club. Da hatte er im Neutal eröffnet. Und war gleich so was von angesagt.

Den ganzen Nachmittag hab ich mit Styling verbracht, Annis schwarze Bluse, die Flatterhose, Neles Lippenstift, die Kette vom Flohmarkt. Trotzdem: blond bleibt blond. Zu hell. Zu grell. Scheinwerfergefühl.

Dann stand er vor mir. Robert Smith. Leibhaftig. Nein, viel schöner als leibhaftig. Der Mantel hörte kurz überm Boden auf. Haare wie ein Vogelnest, würde Papa sagen. Im Gesicht ein bisschen weiß geschminkt. Nicht zu viel, gerade so, dass man es sieht. Die Lippen rubinrot. Die Augen dunkel, mit ganz viel Schwarz drum herum. Ich musste ihn angucken. Konnte nicht aufhören. Ging einfach nicht.

Nele sagte: „Das ist Jonny, ein Kumpel aus Halle.“

Wir gaben uns die Hand. Seine Finger an meinen. So warm. Ich hörte mich „Brit“ sagen.

Sisters Of Mercy. TEMPLE OF LOVE.

Jonny bewegte sich langsam, fließend. Mit geschlossenen Augen. Dagegen war mein Tanzen ein einziges Gezappel. Und ich kam mir vor wie ein falsch programmierter Roboter. Alle mittendrin. Nur ich nicht.

Wollte nochmal anfangen. Den Film zurückspulen. Ging aber nicht. Also noch eine Cola. Die xte Zigarette. An der Bar lehnen. Zuschauen. Ihm zuschauen. An diesem Abend. Und dann im Traum. Immer wieder. Tag und Nacht. Bis ich ihn wieder gesehen hab. Gestern.

Er hat seine Lehre geschmissen. Tontechniker wollte er werden, beim Radio. Aber da gab es keine Lehrstelle für ihn. Maschinen- und Anlagenmonteur sollte er lernen. Berufsausbildung mit Abi in einer Fabrik in Halle. Nach ein paar Wochen ist er nicht mehr hin gegangen.

Ankommen will ich“, sagt er, „erst mal bei mir selbst.“

Ich erzähl ihm von Lukas. Wie er verschwunden war, von einem Tag auf den anderen, abgehauen, mit seinen Eltern, nach Bremen, in der Nacht, als die Mauer fiel. „Auf der Weihnachtsdisko hab ich ihn wieder getroffen. Ganz anders sah er aus, mit gegelten Haaren und spitzen Stiefeln. Er hat mich nicht mehr gekannt. Ich hab eine Cola Wodka nach der anderen getrunken. Mich von Simon einladen lassen.“

Simon?“ Jonny guckt mich fragend an.

Ein Kumpel. War mit meiner Schwester in einer Klasse.“

Er nickt, lächelt vor sich hin, malt mit einem Stöckchen meinen Namen in die krümelige Erde des Friedhofsweges. Ich will nichts mehr sagen. Nur zusehen, wie er malt. Dann das Stöckchen nehmen. J O N N Y malen. Und ein Herz. Um unsere beiden Namen. Mehr nicht.

Und doch erzähl ich weiter.

Dass Simon plötzlich weg war, Anni und Bernd mich dann nach Hause gebracht haben und ich Bernds Auto voll gekotzt habe. Von der Dunkelheit erzähl ich, die plötzlich in mir war und geblieben ist. Von der Traurigkeit, die mich stumm gemacht hat. Und auch geblieben ist. Und dass es nur Nele war, die ich in meiner Nähe haben wollte.

Ich kann plötzlich erzählen, was ich noch niemandem so sagen konnte. Nicht mal Nele. Mit Jonny, da hab ich die Worte. Da fallen sie mir ein. Und manches muss ich auch nicht sagen. Weil ich weiß, dass er es weiß. Wie weh Tageslicht manchmal tut. Wie anstrengend ein sonniger Tag sein kann. Wie frei man in der Stille ist. Und wie man sich in der Nacht zu Hause fühlen kann.

Ich fand Neles Outfit schon immer cool. Die langen, schwarzen Kleider, die Samtbänder, den Silberschmuck. Sie hat mir geholfen, meine Klamotten schwarz zu färben, hat mir Vorhänge für mein Zimmer genäht. Und sie hat mir ein Mixtape geschenkt. Joy Division. Sisters Of Mercy. Anne Clark. Und The Cure. Hab nur noch das gehört. Rauf und runter. Und geheult. Bis ich leer war. Und ganz ruhig.“

Und deine Eltern?“

Ach, Mama war im Krankenhaus oder im Gemeinderat, Papa in der LPG, im Harz-Verein oder im Wald – eigentlich hat keinen interessiert, was ich so mach. Ob ich zur Schule geh oder nicht. Ob ich überhaupt noch da bin. Nur Oma, die hat nicht locker gelassen. Morgens an die Tür geklopft, wenn ich liegen bleiben wollte. Mich abgefangen, wenn ich aufs Klo musste, mir Pfefferminztee vorgesetzt. Und Weißbrot mit Nutella. Das ist das einzige, das ich runter kriege, wenn ich so früh aufstehen muss. Sie ist am Tisch sitzen geblieben, bis ich was davon gegessen habe. Und hat aufgepasst, dass ich aus dem Haus geh.“

Jonny malt immer noch. Malt meinen Namen nach. Langsam. Wieder und wieder.

Mama kam erst abends. Hat nach den Hausaufgaben gefragt. Und wie es sonst so geht. Sie hat sich im Zimmer umgeguckt, die schwarzen Klamotten vom Stuhl genommen. Wieder fallen lassen. Und nichts gesagt. Nicht mal, als ich das LULLUBY Poster überm Bett aufgehängt habe. Das hat sie mit ihrem Sorgengesicht angeguckt. Und sich das Gähnen verkniffen.“

Er schaut mich wieder fragend an. Ich mag es, wie er mir zuhört. Ich nehme ihm den Stock ab.

J O N N Y, ritz ich in die Erde.

Sie schiebt Doppelschichten im Krankenhaus. Und ist im Neuen Forum. Mädchen für alles im Dorf. Und jetzt will sie auch noch Bürgermeisterin werden. Hat sich aufstellen lassen für die Kommunalwahl. Und zu Hause hat sie ja auch zu tun. Papa kümmert sich ja schon lang um nichts mehr, was mit dem Haushalt zu tun hat. Und dem Garten und so.“

Warum erzähl ich das jetzt? Warum fließt das so aus mir raus? Warum ist mir so leicht?

Ich tu es einfach. Mal das Herz um unsere Namen. Er sagt, dass er schon lange nicht mehr zu seinen Eltern geht. In einem Abrisshaus in Halle wohnt. Oder bei Kumpels in Leipzig. Und manchmal besucht er eben Nele. Wohnt dann bei Kumpels, hier in der Stadt. In einem der Blöcke im Neutal. Seine Stimme wird leiser. Dann hör ich ihn nicht mehr. (…)

 

 

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