Sonja Alme / Das wahre Ich / Leseprobe

Exposé

 

Exposé zu „Das wahre Ich“
Genre: Science Fiction & Fantasy-Mix
Umfang: 29 Kapitel à 83 Seiten
Thema: Findung des Selbst


Inhalt: Junge erwacht im Krankenhaus und kann sich nicht an seine Vergangenheit erinnern,
stattdessen hat er Bilder von einem Mädchen und deren Familie.
Persönliche Verbindung zum Inhalt: Nach jeder Operation erwache ich, wie aus einem
anderen Leben. Irgendwie kam der Gedanke, was ist, wenn ich als Junge wieder aufwache.
Meine Schreibmotivation: Ich liebe Puzzle und Lösungen zu finden. Eine Geschichte zu
schreiben bzw. zu entwickeln hat viel mit einem Puzzle oder Rätsel zu lösen gemeinsam.
Dieses Buch ist ein solches Puzzle. Am Anfang war nur die Idee, wie es ist, wenn ein Mensch
von einem anderen Menschen Erinnerungen ins sich trägt.


Fiktiver Klappentext:
Robin ist Auftragskiller. Bei einem Auftrag begegnet er einem kleinen Mädchen mit einer
schwarzen 5 in der linken Handfläche. Er selber kennt dieses Tattoo – er hat eine schwarze 4
an seinem linken Fußknöchel. Was hat diese Zahl zu bedeuten? Da bekommt er den Auftrag
die Polizistin Sharon Barnes zu kidnappen und an einen anderen Killer zu übergeben. Dieser
Killer namens Megan Khan besitzt ebenfalls ein Tattoo – eine schwarze 3. Bei der Übergabe
wird auf Robin geschossen und ihm überkommen Zweifel an seinem Tun und seiner Existenz.

 

 

Leseprobe

 

– 1 –

Die Nacht ist schwarz in Manhattan. Zwei Männer jagen sich mit Waffen in den
Händen über die Dächer der Stadt. Sie schießen unentwegt aufeinander, aber keiner
trifft den anderen. Sie sind Beide aus dem gleichen Holz geschnitzt, haben dieselbe
Ausbildung hinter sich und auch wenn man es ihnen nicht unbedingt ansieht, so könnten
sie altersmäßig Vater und Sohn sein. Beide schießen zur selben Zeit. Der jüngere Mann
wird getroffen und flucht. Der Ältere grinst böse: „Das nennt man Rache.“ Der
Verletzte guckt ihn an und lacht: „Du schießt wie ein Mädchen!“ „Das war Absicht. Ich
will dich leiden sehen. Du bist nicht die Nummer 1 – ICH bin die Nummer 1.“. Er hockt
sich vor ihm hin, da der Verletzte noch immer keuchend und mit schmerzverzerrtem
Gesicht am Boden liegt, „Ich hab da noch `ne kleine Information für dich.“ Der Jüngere
schaut ihn verwirrt an und fragt sich zur selben Zeit, ob er diese Information überhaupt
wissen will. Der Ältere nähert sich seinem Gesicht, sein Grinsen wird breiter und der
Jüngere weicht zurück, so gut er kann. Der Ältere widert ihn an. Dann sagt er noch den
Satz, den der Jüngere auf keinen Fall hören wollte: „Rally-May kam bei mir ganz schön
ins Schwitzen. Die Kleine ist bei dir eingerostet.“ Der Jüngere ist Wut entbrannt, springt
plötzlich auf und rammt seinen Kopf gegen den des Älteren. Dieser ist verdutzt, wie viel
Kraft der Jüngere noch hat. Dann nutzt der Jüngere die Gelegenheit, packt den Älteren
an die Schultern und stößt ihm das Knie in die Magengegend. Dem Älteren droht das
Bewusstsein zu verlieren. Aber er kann sich jetzt nicht von diesem Grünschnabel
besiegen lassen, das geht ihm gehörig gegen den Strich. Er ist die Nummer 1 unter den
Killern auf der gesamten Welt. So einen Grünschnabel wird er wohl doch noch
erledigen können. Eine ganze Weile kämpft er gegen die Schmerzen und die drohende
Bewusstlosigkeit an. Es ist hart, aber er schafft es. Der Jüngere muss auch kurz eine
Verschnaufpause einlegen. Der Schuss hat ihm doch härter zugesetzt, als er gedacht hat.
Und jetzt wo er wieder steht, ist ihm für einen Augenblick schwindelig geworden – es
dreht sich alles. Aber dieses Riesenarschloch wird er vernichten und wenn es das Letzte
ist, was er tut. Er wird ihn mit Blei vollpumpen bis sich keine Zelle mehr regenerieren
kann bzw. er so viel Blut verloren hat, das er endlich sterben würde. Leider kennt er die
genauen Schwachstellen am Körper der anderen Killer nicht. Er vermutet nur, dass es
dieselben sind wie bei Menschen. Er weiß nur, dass er und seine Art sich schnell
regenerieren können, sie sind widerstandsfähiger als die Menschen. Wie man Menschen
tötet, das weiß er nur zu gut. Denn er und alle anderen sind für das Morden von
Menschen ausgebildet worden. Von klein auf. Keiner hat eine Kindheit gehabt. Keiner
von ihnen wuchs mit Eltern oder Geschwistern auf. Keiner weiß, was eine Familie ist.
Aber er hat angefangen eine zu gründen. Er will dieses ewige Morden nicht mehr. Es
gab eine Zeit, in der er es sogar nicht mehr gemacht hat, sondern normal arbeitete und
lebte wie ein Mensch. In dieser Zeit ist er glücklich gewesen, aber irgendwann holte ihn
die Vergangenheit wieder ein und die anderen sind gekommen, um ihn zu töten. Er tut
nicht das, wozu er erschaffen worden ist. Ist dem wirklich so? Keiner kann ihm sagen,
warum er auf diese Welt gekommen ist. Die Killer behaupten „um die Menschen zu
töten“, aber das kann nicht im Sinne der Menschen sein, die es ermöglicht haben sie zu
produzieren. Er will diese Menschen fragen. Zuerst muss er allerdings die Killer aus
dem Weg räumen. Aber nicht alle. Es gibt einen, der über alles Bescheid weiß. Den
einen Besonderen muss er finden und befragen, wo diese Menschen sich befinden, die
für ihre Existenz verantwortlich sind. Wer hat sie erschaffen und vor allem warum?
Noch bevor der Ältere sich vollkommen erholt hat, rammt ihn der Jüngere mit ganzem
Körpereinsatz gegen eine Schornsteinmauer. Die Mauer zerberstet und beide stürzen
vom Dach runter in die schwarze, tiefe Dunkelheit …

Sonnenstrahlen wecken mich sanft. Ihr gelbes, warmes Licht lässt mich aus dem Bett
springen und leichtflüssig durch den Raum tanzen. Heute ist mein 16. Geburtstag. Ich
freue mich seit einigen Jahren auf diesen Tag. Endlich kann ich mit meinem Moped
durch die Gegend brausen und bin nicht mehr von meinen Eltern oder auf die
öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Natürlich wäre ein Auto zu fahren cooler, aber
fürs Erste reicht mir das Moped und hier in Leipzig einen Parkplatz zu finden, ist
sowieso ein Krampf. Vor der Schule befinden sich Parkplätze, viele von den
Oberstuflern haben ein Auto. Dort einen solchen Platz zu ergattern, heißt früh aufstehen
oder Geld zu haben. Denn mit Geld kann alles gekauft werden und erstrecht Menschen
oder sogenannte Freunde, die den Platz freihalten und notfalls auch mit Gewalt. Bei den
Parkplätzen für Zweirädern sind genügend vorhanden und es ist egal, ob motorisiert
oder nicht. Zum Glück sind Ferien. Also Schluss mit dem Denken an die Schule.

Ich gehe ins Badezimmer und ziehe mich an. Mein Lieblingskleid – weiß mit bunten
Blumen. Ein letzter Check im Spiegel – meine braune Haarpracht fließt in sanften
Wellen an meinem Gesicht runter bis zur Brust. Meine grauen Augen strahlen mir aus
dem Spiegel entgegen. Heute ist der Tag – mein Tag. Ich lache und verlasse mein
Zimmer. Die Treppe runter, in die Küche. Meine Mutter Linda wartet bereits auf mich.
Sie lächelt mich an und umarmt mich: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und
alles, alles Gute, Josephine!“ Ich strahle sie an: „Dankeschön!“ „Komm setz dich! Der
Frühstückstisch ist gedeckt. Die Geschenke kannst du gleich nach dem Frühstück
öffnen, die laufen nicht weg.“ Ich nicke freudig und setze mich an den Tisch.

Die Treppenstufen knartschen. Ich halte inne. Könnte das mein Vater sein? Ich sehe ihn
sehr selten und warte stets darauf, ihn wieder sehen zu können. Nein, die Schritte
werden schneller und sie sind viel zu leicht für ihn.
Meine Schwester Silvia schreitet auf ihren neuen Pradas in die Küche. Mit einer
übertriebenen Geste der Freude schreit sie fast: „Herzlichen Glückwunsch, liebstes
Schwesterchen!“ „Danke!“, innerlich rolle ich mit den Augen. Heute will ich ihr
Schauspiel keinerlei Beachtung schenken. Sie setzt sich an den Tisch. Kein weiteres
Wort folgt. Zum Glück. Ich genieße das Frühstück weiter. Ein bisschen betrübt, dass
mein Vater Hans fehlt.

Eine Stunde später poltert jemand die Treppe runter. Ich rolle wieder innerlich mit den
Augen. Mein kleiner Bruder Bastian. Warum hat er diesen Tag nicht verschlafen? Einen
ganzen Tag Ruhe vor ihm. DAS wäre schön. Er schlendert mit Basketballkappe auf dem
Kopf und einer viel zu tief hängenden Jeanshose in die Küche. „Jo, was geht ab, Weibs?
Josephine. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ „Danke.“ Er pflanzt sich auf
einen Stuhl und redet weiter: „Jetzt biste in einem Alter, wo du legal gefickt werden
kannst.“ „Bastian!“, meckert Mutter. Silvia beschwert sich: „Oh, du bist voll ekelig.
Nicht beim Essen.“ Ich sage gar nichts dazu. Das Thema interessiert mich nicht. Aber
für Bastian ist es das Thema Nummer 1. Er widert mich an. Mutter redet auf ihn ein. Sie
meint, das bringt was. Bastian bleibt cool wie eh und je, ohne Mimik. Dennoch sehe ich
ihn mit einem breiten Grinsen vor mir. Ich blinzele. Die Vision ist weg.

Manchmal habe ich Bilder vor meinen Augen, die nur ich sehen kann. Leider haben sich
diese Bilder immer bewahrheitet. Habe ich eine Gabe die Wahrheit zu sehen? Ich
wünsche mir jemanden, mit dem ich darüber reden könnte. Meinem Vater würde ich es
anvertrauen. Sonst niemandem aus der Familie. „Wo ist Papa?“, platzt es aus mir
heraus. Wie automatisch antwortet Mutter: „Auf der Arbeit.“, und spöttischer, „Wieder
Flugzeuge basteln.“ Mein Vater ist Ingenieur und arbeitet bei einer großen
Fluggesellschaft. Manchmal ist er sogar für Monate weg.

Zwischen meinem Vater und mir empfinde ich eine Bindung, die über eine normale
Vater-Tochter-Beziehung hinaus geht. Mir scheint es so, als ob wir verwandte Seelen
wären.
Es gibt Tage, an denen ich Bilder vor mir sehe, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
Meistens werde ich von diesen Bilder nachts heimgesucht. Den Tag zuvor habe ich mit
meinem Vater gesprochen.
Die Bilder rasen im Bruchteil einer Sekunde vor mir – wie ein Film, der sehr schnell
vorwärts gespult wird. Stets sind es dieselben: eine Villa am Rande von Tokio, eine
Weitere in Frankreich, ein unterirdisches Labor, ein gigantisches Hotel in Manhattan
und dann sehe ich schlafende Menschen in zylinderförmigen Wassertanks. Das Ende
macht mich jedes Mal fertig. Mein Vater blickt mich zornig an, als ob er mich töten
wollte und zum Schluss erhebt sich eine weiße Gestalt in die Luft und fliegt aus einem
offenen Fenster davon.

Inzwischen ist eine Weile vergangen, da ich diesen Traum zuletzt hatte. Und heute mag
ich auch gar nicht daran denken, denn heute ist mein Geburtstag.

Am Nachmittag kommen meine Freundinnen zur Party. Wir sitzen an einem
ovalförmigen Tisch. Erst gibt es verschiedene Kuchen und Torten. Wir laufen im Garten
umher und spielen Volleyball. Mein kleiner Bruder Bastian versucht, die eine oder
andere Freundin anzubaggern. Ich streite mich mit ihm und letztendlich beendet Mutter
das Theater, indem sie Bastian auf sein Zimmer verweist unter Androhung von
Stromentzug. Ohne Strom funktionieren weder Computer noch Spielekonsolen. Nach
diesem Spektakel wird es ruhig und wir feiern weiter.

Alles im allen ist es ein schöner Geburtstag gewesen, trotz der Abwesenheit meines
Vaters.
Am Abend gehe ich ins Bett und schlafe sofort zufrieden und glücklich ein.
 
– 2 –

Eines Abends gehen Rally-May und ich auf die Jagd. Wir sind in einem Luxushotel
mitten in Tokio in der obersten Etage unterwegs. Hier befindet sich ein Casino mit
Unmengen von Spielautomaten und im hinteren, ruhigen Teil einige Spieltische für
Poker, Roulette und dergleichen. Viele Menschen sind hier. Es ist recht eng und laut.

Unsere Ziele sind vorgegeben und es dauert nicht lange, da haben wir die zwei Personen
gesichtet. Wir schleichen uns an, wie Raubtiere an ihre Beute. Rally-May positioniert
sich so, dass er sie sehen muss. Einer blonden Schönheit mit Rehaugen kann keiner
entkommen. Ich setze mich zu meiner Zielperson an die Bar. Sie bewegt sich seit
mehreren Stunden nicht von hier fort. Aber trinken tut sie nur alkoholfreie Cocktails.

Zielperson gefunden. Jetzt das Pokerface aktivieren und die Person – eine dunkelhaarige
Frau – ansprechen. „Hallo. Darf ich mich neben Sie setzen?“ „Oh, Hallo.“, sie lächelt
mich an: „Ja, gerne.“ „So eine schöne Frau, wie Sie sollte nicht alleine bleiben.“ Sie
lächelt kühl: „Danke. Was ist mit Ihnen? Warum sind Sie alleine hier?“ „Ich bin auf
Geschäftsreise.“ „In einem Casino?“ Ich lache: „Jetzt ist Feierabend und ich habe gute
Laune. Wissen Sie was, ich gebe Ihnen einen Drink aus und wir hören endlich mit dem
Siezen auf.“ Sie nickt: „Ok! Ann.“ „Jack!“

Nach knapp einer Stunde und weiteren Alkoholgenüssen gehe ich mit der Dame im
Arm aufs Hotelzimmer. Innige, feurige Küsse werden im Fahrstuhl ausgetauscht – mal
von ihr, mal von mir. Kaum im Zimmer angekommen, lege ich schnell und vorsichtig
mein Jackett auf einen Stuhl, dann entkleiden wir uns gegenseitig. Nur noch in
Unterwäsche bekleidet, krabbelt sie auf das Bett und mit dem Zeigefinger und ihrem
gierigem Blick winkt sie mich zu sich. „Komm!“ Ich klettere auf das Bett zu ihr hin. Sie
ergreift sofort meinen Kopf und küsst mich wild. Dann liegt sie unter mir. Die letzten
Hüllen fallen und ich ziehe ein Gummi über mein edles Teil. Einige Augenblicke später
befinden wir uns in einer Sphäre der vollkommenen Zufriedenheit. Sie schläft ein. Ich
gehe zum Stuhl, wo mein Jackett liegt. Dort hole ich meine Waffe hervor. Ich montiere
den Schalldämpfer und kehre zum Bett zurück. Ein letztes Mal betrachte ich sie. Mein
Zeigefinger betätigt den Abzug automatisch ohne weiter zu überlegen. Wie in Trance
beseitige ich die Spuren unserer gemeinsamen Nacht. Ihre Kleidungsstücke lasse ich
ungerührt im Raum verteilt liegen. In diesem Auftrag geht es nur um Töten, nicht darum
Informationen zu sammeln. Meine Aufträge handeln meistens immer nur vom Töten.
Ich bin Auftragskiller. Rally-May ist meine Partnerin. Sie ist für den Kollegen der
Zielperson zuständig. Vielleicht hat sie ihn auch schon bereits erledigt. Ich ziehe mich
vollständig an, verlasse das Zimmer und lasse das komplette Hotel hinter mir.

 

– 3 –

„Wieso riecht es so komisch? So steril und beißend.“ Ich schlage ruckartig meine
Augen auf. Uh, helles Neonlicht sticht mir in die Augen. Ich schließe sie sofort wieder.
Dann blinzele ich einige Male, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt haben.
Verwirrt betrachte ich die Umgebung – alles weiß. Weiße Wände, weiße Möbel, ein
weißes Bett, in dem ich liege. „Was ist passiert? Wo bin ich?“ Die Frage nach dem Wer
spare ich mir, denn mein Bewusstsein schreit mir einen Namen entgegen: Robin. Ich bin
Robin. Daran kann ich mich erinnern, aber sonst … fehlt alles. Nein … da erscheinen
Bruchstücke in meinem Gedächtnis. Noch herrscht ein großes Durcheinander. Minuten
vergehen und ich starre auf die weiße Wand vor mir. Langsam, ganz langsam setzen
sich die Bruchstücke zusammen, wie ein riesiges Puzzle. Und dieses Puzzle scheint
mein bisheriges Leben zu sein.

Ich sehe eine fünfköpfige Familie. Das Mädchen mit den braunen Haaren und den
grauen Augen spricht mich an. Ihr Name kennt mein Bewusstsein ebenfalls: Josephine
Müller. Mit diesem Mädchen fühle ich mich auf seltsame Weise verbunden, so als
würde ich sie schon eine Ewigkeit kennen. Da sind auch andere Bilder und
Erinnerungen mit ihr und der Familie. Die Namen der anderen Familienmitglieder
erscheinen nach und nach ebenfalls in meinem Geist. Der Vater Hans, die Mutter Linda,
die große Schwester Silvia und der kleine Bruder Bastian. Glück und Trauer fühle ich
zugleich. Wie kann das sein? Warum? Wo ist diese Familie jetzt? Ob ich sie
wiedersehen kann? Vielleicht können sie mir helfen und erklären, warum und weshalb
ich hier bin.

Alles kommt mir wie ein langer, seltsamer Traum vor. An ein vorheriges Leben
erinnere ich mich nur schemenhaft. Nichts fühlt sich real an – Erinnerungen an
Geschmack und Geruch von Dingen, die ich in meinem Geist sehe, sind keine
vorhanden. Dieses Jetzt, hier im weißen Zimmer zu sein, hingegen fühlt sich echt an.
Ich spüre meinen Körper samt Gliedmaßen. Das ist alles Meins und ich kann
bestimmen, was ich mache. Diese Erinnerungen im Geist sind wie ein Film, der vor
meinen Augen abgespielt wird. Ich laufe in der Erinnerung über eine Wiese und ich
höre mich lachen, aber ich fühle nichts. Nicht das Gras unter meinen nackten Füßen,
nicht den Sommerregen auf meiner Haut. Nichts. Als sei ich nur ein Zuschauer, nicht
der Schauspieler.

Die Tür des Zimmers geht auf. In weiß gekleidete Personen treten ein. Wahrscheinlich
sind es Ärzte und Krankenschwestern. Dieser weiße Raum wirkt auf mich wie ein
Krankenhauszimmer. Sie reden in einer anderen Sprache, die ich nicht verstehe. Sie
sprechen nur miteinander. Nach einer kurzen Weile gehen sie wieder und ich bin
alleine.

Ich bin am Arm an einer Infusion mit Ständer angeschlossen. Da ich aber keine
Schmerzen habe geschweige denn Wunden oder Ähnliches an meinem Körper finden
kann, verlasse ich das Bett und schaue mich im Zimmer um. Dabei ziehe ich die
Infusion samt Ständer hinter mir her. Eine kleine Waschnische befindet sich hinter der
schmalen Schrankwand, rechts neben dem Bett. Ebenfalls alles in Weiß. Ich blicke in
den Spiegel. Mir schaut ein Junge mit schwarzen Haaren und blauen, fast grauen Augen
entgegen. Mein Aussehen ist europäisch, nicht asiatisch, wie die Personen eben. Ich
finde, dass ich dem Mädchen Josephine aus meinen Erinnerungen ein bisschen ähnlich
sehe. Die Augen sind fast identisch. Nach der neugewonnenen Erkenntnis, dass ich ein
Junge und kein Mädchen bin, kehre ich geistesabwesend in mein Bett zurück. Ich war
bis eben der festen Überzeugung, dass ich ein Mädchen wäre. In meinem Gedächtnis
schreit alles förmlich danach, das ich eines bin. Dieser männliche Körper fühlt sich
zwar real an, aber in meinem Denken und Fühlen bin ich ein Mädchen.

Etwas später erscheint ein älterer Japaner in einem grauen Anzug. Er verbeugt sich
knapp und kurz vor mir an meinem Bett. Dann redet er auf Deutsch mit mir. Sein Name
ist Taishô Khanjo Mejo. Taishô bedeutet auf Deutsch General und mit diesem Titel soll
ich ihn ansprechen. Er ist General in der japanischen Regierung. In zwei Wochen werde
ich bei ihm wohnen und bei ihm in die Lehre gehen. Er sagt, der Professor hätte mich zu
ihm geschickt, damit er mich zum Auftragskiller ausbildet. Dann schweigt er eine
Weile, schaut mich von Kopf bis Fuß und zurück an. Teils reibt er sich dabei das Kinn,
ansonsten steht er steif dort, wo er von Anfang an stand. Er rührt sich nicht vom Fleck
oder geht hin und her im Zimmer.
Dann setzt er sich auf den Stuhl gegenüber von meinem Bett. Er erklärt mir, wo ich
mich jetzt befinde. Ich bin in einem Krankenhaus in Tokio. Verdutzt frage ich:
„Tokio?“ Er nickt: „Das Tokio in Japan selbstverständlich.“ „Wie komme ich hier
her?“, will ich von ihm wissen. Darauf antwortet er nicht. Er sagt, er weiß es nicht. Der
Professor habe das Alles hier geplant. Er – Taishô Mejo – sei nur der Bote. Fragen an
den Professor kann man nicht stellen. Das gehört sich nicht. Befehle müssen befolgt
werden. Keine Widerrede, kein Widerstand. Ansonsten würde man sein Leben
verlieren.

Nach knapp einer Woche wird die Infusion am Arm abgeschafft und ich bekomme feste
Nahrung. Am Anfang muss ich mich übergeben, es dauert einige Tage bis ich die
Nahrung bei mir behalten kann. Die Tabletten, die ich täglich einnehmen muss, werden
zusehends weniger. Ich habe versucht zu erfahren, wieso und warum ich diese Tabletten
nehmen muss, aber ich kann nichts in Erfahrung bringen. Die weißgekleideten Personen
reden nicht mit mir, sie beachten mich wie einen Gegenstand, nicht wie einen
Menschen.

Als die Tabletten nicht mehr benötigt werden, fangen die Untersuchungen an. Jeden Tag
bringen sie mich in einen Videoraum. Dort bekomme ich unterschiedliche Bilder und
Videos gezeigt. Ich versuche die Ruhe zu bewahren, aber es ist sehr schwer für mich. Es
sind Grauen erregende Ereignisse z.B. der Zweite Weltkrieg, Vergewaltigung von
Frauen, Leute, die andere zu Tode prügeln. Von vielen Bildern wird mir schlecht. Eine
Frau im weißen Kittel schreibt jede meiner Reaktionen auf einen Zettel auf. Diesen
Zettel bekomme ich nur einmal kurz zu Gesicht und dennoch brennt sich dieser eine in
mein Gehirn ein – ich nenne ihn den Psychoverhaltenstest. Er ist in Englisch verfasst.
Ein Satz auf ihm ist dick unterstrichen und mit einem Kugelschreiber hat jemand
schwer leserlich daneben geschrieben. „Test 04 weist starke Emotionen – vorwiegend
Aggressionen – auf.“ Was hat das zu bedeuten? Bin ich Test 04? Ein Test von was?

Taishô Mejo kommt am nächsten Tag mit seiner Frau Janko in mein Zimmer. Beide
sehen für mich fast gleich aus. Janko ist zierlicher als ihr Mann und sie ist liebenswert.
Taishô Mejo ist General eben durch und durch – streng und stur. Nur seine Meinung
zählt.
Sie besuchen mich einige Male, bevor der Tag kommt, an dem Taishô Mejo mich zu
sich holt.
 
Wir fahren mit einer Limousine durch Tokio und ein Stück weiterraus auf ein riesiges
Anwesen mit einem Steinhaus, welches von mir als Villa bezeichnet wird. Dieses Haus
ist von heute an mein neues Zuhause. Hier lebt Taishô Mejo mit seiner Frau Janko und
seinen Bediensteten. Die zwei obersten Bediensteten sind Haushälterin Sakura und
Butler Shinji. Die Haushälterin Sakura ist die gute Fee im Haus, kümmert sich um unser
Wohlbefinden und geht mit Janko einkaufen. Der Butler Shinji weiß alles, was im Haus
vor sich geht und über alle Vorgänge von Taishô Mejo.

Taishô Mejo lehrt mich die japanische Sprache und Schrift, die Hohe Kunst des
Kampfsports, bildet mich zum Auftragskiller aus und behandelt mich stets wie einen
Sohn.

Die Ausbildung bei ihm dauert Monate, dennoch kommt es mir vor wie eine kurze Zeit
und im Vergleich zu den widerlichen Untersuchungen im Krankenhaus ist diese
Ausbildung angenehm.

 

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