Kay Werninghaus / Am Ende der Wege / Leseprobe

 AM ENDE DER WEGE

 

 

Prolog

 

November

 

Der Oberkörper der Toten hatte sich quer vor das Fanggitter geschoben. Das Gesicht halb im

 

Wasser, hing sie mit angewinkelten Beinen am Eingang zur unterirdischen Kanalführung fest. Unrat dümpelte zwischen den Strähnen ihrer Haare. Wie in einem letzten vergeblichen Versuch, in Deckung zu gehen, kreuzten sich die Hände vor ihrem Kopf, ihre Füße aber tanzten in leichten Leinenschuhen im Sog eines kleinen Strudels.

Wolken hingen tief über dem flachen Land. Die meisten Felder waren kahl. Auf vereinzelten

 

Flächen duckte sich, glänzend vor Nässe, Winterweizen in die Ackerfurchen.

 

In schnurgeraden Zacken schnitt sich der Kanal in die weite Ebene zwischen Stadtrand und Kohlegruben. Das Unbehagen der Menschen, die in den verstreuten Dörfern lebten, begleiteten seinen kilometerlangen Lauf. Sie fürchteten seine steilen, glatten Wände, an denen es kein Halten gab. Immer wieder nahm er Lebewesen dieser öden Landschaft mit sich. Streunende Katzen, entlaufene Hunde, ein verirrtes Reh, oder ein Kind, das die Gefahr der algenglatten Betonschrägen nicht einzuschätzen wusste. Als hole er sich seinen Anteil am Leben zum Ausgleich für das Bett, an das er gefesselt war, in diesem schweren Ackerboden, aus dem er das aufsteigende Grundwasser ausleitete, das den Tagebau bedrohte. Die Verantwortlichen versuchten das Unheil, das von ihm ausging, hinter Sicherheitszäunen und dichten, mannshohen Hecken zu verbannen, bis man das Glitzern des Wasserlaufes nur noch von den Wegbrücken aus sehen konnte, die den Kanal überquerten.

Sprühregen schwebte aus der tief hängenden Wolkendecke und senkte sich kalt auf die triefnasse Landschaft. Über den Gerippen der Hochspannungsmasten hing die Abenddämmerung. Bis auf das Rauschen des Wassers war kein Laut zu hören, nur die vereinzelten heiseren Schreie der Krähen durchbrachen die Stille. Einer der Vögel ließ sich von einer Oberleitung fallen und segelte im Gleitflug hinunter auf den betonierten Absatz der Wegbrücke. Seitwärts hüpfte er auf der Brüstung

entlang und beäugte die Tote im knietiefen Wasser.

 

Vor wenigen Tagen war der Kanal noch randvoll. Es regnete ununterbrochen in Strömen. Die Rückhaltebecken liefen über und der Kanal tat tosend seinen Dienst, indem er die Wassermassen aus der weiten Ebene spülte.

Die Krähe machte einen Satz von der Brüstung und trabte in großen Ausfallschritten die Seitenschräge zum Wasser hinunter. Sie weitete ihre Schwingen wie zu einem Segen und enterte auf die Hüfte der Toten über. Von hier aus begann der Vogel, mit dem kräftigen Schnabel im

dümpelnden Unrat stochernd, die Lage zu sondieren.

 

Weiter oben auf dem asphaltierten Feldweg näherte sich unter einem Schirm geduckt eine verfrorene Gestalt. An durchhängender Leine führte sie einen lustlos dahintrottenden Hund. Beide gingen, ohne etwas zu bemerken, an der makaberen Szenerie vorüber. Bis man die Tote fand, verging eine weitere Nacht.

 

I.

 

März – neun Monate vorher

 

 

Marlene Langkau saß mit versteinerter Miene am Küchentisch. Ihre Hände umklammerten die erkaltete Kaffeetasse, als könnte diese wie von selbst über die Kante der Tischplatte rutschen und zu Boden fallen. Doch der Tisch stand gerade auf ebenem Boden.

Sie starrte auf die Kiefernholzmaserung, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Der Arbeitstag lag hinter ihr. Sie fühlte sich ausgehöhlt und gleichzeitig tonnenschwer. Und ihr Kopf war wund, als hätte ihr jemand mit Stahlwolle von innen die Schädeldecke ausgescheuert. Nur ein Summen war zu hören, und absurde Schwankungen in der Erdachse ließen ihre Vestibularorgane torkeln. Sie umgriff die Tasse fester und atmete tief ein und aus. Verdammt, dachte sie. Muss wirklich falsch

ausgerichtet sein heute. Sie blinzelte und versuchte das Schwanken der Welt von sich abzuschütteln. Atmete noch einmal tief ein und aus.

Bukowski im Hundekorb gab ein Seufzen von sich, brummte und sortierte die überkreuzten Pfoten unter dem aufgelegten Kopf anders herum. Marlene warf einen Blick auf die große Hündin und überlegte, ob sie Kraft genug für eine Runde mit ihr hätte. Ihr schwarzes Fell sah staubig aus. Ein Faden grauer Spinnweben zog sich quer über ihren Kopf. Marlenes Blick kehrte zurück zur Tischplatte.

Etwas stimmte wirklich nicht. Es lag es wie ein grauer Belag auf jeder Fläche, hing wie Dunst in jedem Zimmer.

„Was willst du bloß von mir?“, fragte sie in die Stille hinein und stützte ihre Stirn in beide Hände.

 

„Lass mich in Ruhe!“ Ihre Fingernägel gruben sich in die Kopfhaut und der kurze Schmerz betäubte für einen Moment das wundgescheuerte Gefühl im Innern.

Stille.

 

„Ich will doch nur meinen Frieden.“ Bukowski brummte.

„Mit dir rede ich gar nicht.“

 

Unter den zerwühlten Haaren hervor blinzelte sie wieder zur Hündin hinüber, die jetzt vor sich hin schmatzte und ein Schnauben von sich gab. Der Spinnwebfaden hob sich. Die Hündin nieste und schlief wieder ein. Marlene lachte tonlos. Dich kann auch gar nichts aus der Ruhe bringen, dachte sie und schloss die Augen. Bilder flackerten im Dunkel ihrer Stirnhöhlung auf und liefen dann wild im Kreis. Die letzte Sitzung. Dringenbergs gebrüllte Ansprache. Der Tumult in ihrer Klasse neulich. Ansgar.

„Aufhören“, murmelte sie.

 

Die Bilder liefen langsamer und blieben stehen. Ansgar. So fremd. Jetzt könnte sie es nicht einmal ertragen, wenn er nach Hause käme. Sie stemmte sich von ihrem Sitz hoch und wechselte mit steifen Gliedern ins Wohnzimmer.

Ein kleiner Stutzflügel dominierte den Raum. Mit dem Corpus zur Raummitte stehend, beanspruchte das Instrument fast das halbe Zimmer. Müde ließ sie die Finger über die Klaviatur wandern und suchte die ersten Akkorde einer Gnossiènne von Satie.

Klar und voll sprangen ihr die Töne entgegen. Die Stille im Haus kontrastierte jede einzelne Note. Sie ließ sich auf der Klavierbank nieder und suchte aufmerksamer. Sie hatte das Stück nie vollständig beherrscht. Als sie und Ansgar zusammenzogen, gab sie das Spielen im Stadium einer fortgeschrittenen Anfängerin auf. Unmöglich, neben einem studierten Musiker mit ihrem dilettantischen Geplänkel zu bestehen.

Mit kalten Händen tastete sie sich an den Anfang des Stückes heran. Holprig setzte es sich unter ihren Fingern zusammen. Die Melodie der rechten Hand fand sich leichter als die Akkorde der Linken. Sie erinnerte die Tonart nicht. Irgendwo hier mussten doch die Noten zu finden sein? Sie wendete suchend ihren Kopf und ließ den Blick über das Regal zu ihrer Linken schweifen. In einem wilden Durcheinander stapelten sich Notenblätter, Partituren und verschiedene Klavierschulen in den Regalfächern.

Obwohl Ansgar von beinahe zwanghaftem Ordnungssinn war, gelang es ihm nicht, ein brauchbares System für seine Klaviernoten einzurichten. Er versuchte es mit Schubern und Ordnern und ließ es wieder sein. Dafür hielt er ihr und seinen Schülern gerne Vorträge über teures Notenmaterial, das ein Musiker wie eine kostbare Sammlung zu hüten hätte. Danach klatschte er die gerade

verwendeten Blätter auf den Stapel der zuletzt gebrauchten Hefte und zog das nächste Exemplar aus einem anderen Stoß hervor. Oft genug glitten dabei lose Notenblätter zu Boden. Dann guckten seine Schüler, je nachdem wie alt sie waren, groß, oder verlegen, oder sie grinsten frech.

Marlene hatte einmal trocken bemerkt, das sei wohl ein Vorrecht von Künstlern, ein solches Chaos um sich herum zu verbreiten. Ansgar hatte sie kurz gemustert und ein irritiertes kleines Husten von sich gegeben. Das war vor beinahe sechs Jahren, als sie mit Mitte dreißig bei ihm die ersten Stunden nahm. Damals wollte sie herausfinden, ob sich ihre verschütteten Klavierkenntnisse aus Kindheitstagen wiederbeleben ließen.

Vielleicht hätte sie Glück, wenn sie es alphabetisch versuchte? Sie erhob sich aus der Bank und machte zwei Schritte zum Regal hinüber. Entschlossen griff sie in die ungefähre alphabetische Mitte und hielt Band zwei von Debussy in den Händen. Direkt daneben fanden sich Piano Popsongs. So würde sie Erik Satie nie finden. Versunken lehnte sie sich gegen das Regal und begann, sich durch die Stapel zu blättern. Piano Popsongs brauchte er eigentlich in der Musikschule für seine Bands

und Schülergruppen. Vermutlich suchte er sie dort immer vergebens. Sie legte es zur Seite. Beethoven, Bach, Ragtime Riffs. Dann diverse Anfängerschulen. Sonaten von Czerny.

Anfangs funktionierte es gut mit dem Ausgraben ihrer verschütteten Klavierkenntnisse. Er forderte sie auf, einfach drauflos zu spielen was ihr so einfiel. Um herauszufinden, was noch da war.

Lässig ans Regal gelehnt, stand er schräg vor ihr. Die Arme verschränkt vor der Brust, den Kopf leicht gesenkt, sodass ihm schimmernde Haarsträhnen über die Augen fielen. Ihr war leicht schwindlig und sie nahm den Blick von im fort und richtete ihn auf die Klaviertasten.

Einfach drauflos spielen! Sie protestierte: Ohne Noten würde da gar nichts gehen, das sei ja fast dreißig Jahre her! Lachend begann sie mit der rechten Hand die Melodie von Für Elise zu klimpern. Nur um ihn zu überzeugen, dass es so keinen Sinn hätte, was sie ihm auch wortreich erläuterte.

Doch Ansgar sah sie an und wartete. Schweigend wanderte er während ihrer hektischen

 

Verteidigungsrede um den Flügel herum, ohne ihr zu antworten.

 

Er musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Es sei letztlich ihre Sache, ob sie nun Unterricht wolle oder nicht, schien er ihr mitzuteilen. Ihm sei das im Grunde egal. Sein Blick war kühl, obwohl ein Lächeln in seinen Mundwinkeln lag.

Marlene riss sich zusammen. Sie ließ ihr Gerede bleiben und begann das Stück von vorn. Plötzlich wurde die Erinnerung in ihrem Körper wach und ihre Hände wussten wie von selbst, nach welchen Tasten sie greifen mussten. Das Stück kam aus den Tiefen der Erinnerung, so, wie sie es als Kind gelernt hatte. Lebendig und mit Gefühl. Und sie erlebte wieder, wie das alles eins wurde: der Tanz der Noten auf den Linien, der Lauf ihrer Hände über die Tasten. Die zwei Melodiestimmen, die sich wie Brandungswellen kreuzten. Es verwirrte und erschütterte sie, dass sie zum Ende ihres Spiels so aufgewühlt dasaß. Sie fühlte sich bloßgestellt, als wäre sie nackt mitten über einen Marktplatz

marschiert.

 

Sie hatte tatsächlich vergessen, wonach sie eigentlich suchte als ein unbestimmter Drang sie dazu getrieben hatte, sich aus dem Telefonbuch einen Klavierlehrer zu suchen. Ihr Körper war es, der es ihr in Erinnerung rief: Es war diese Art von Lebendigkeit. Dieses durchströmt werden. Ansgar lächelte triumphierend, als sie mit rotem Gesicht den Blick senkte.

„Sehen Sie? Es funktioniert“, sagte er und dann machte er sich daran, Noten für sie zusammenzustellen, die auf ihrem halb vergrabenen Anfängerwissen aufbauen würden.

Bukowski holte sie ins Jetzt zurück. Vorwurfsvoll blinzelnd legte die Schnauzerhündin ihr den Kopf auf den Schoß und brummte. Ein Hauch modriger Gerüche umgab sie. Also gut, dachte Marlene

und erhob sich von der Klavierbank.

 

„Dann komm. Aber erst erledigen wir den Einkauf!“

 

Die große Hündin vollführte schon nach dem ersten Wort einen pfotenscharrenden und schwanzwedelnden Tanz aus überschwänglicher Vorfreude, der den Geruch nach Verwesung, der sie umgab, dichter werden ließ.

„Mein Gott, wo warst du nur?“ fragte Marlene. Sie bekam keine Antwort.

 

***

 

Vor Anstrengung zitternd zog Ansgar einen Lidstrich nahe dem Wimpernansatz seines linken Auges. Die blutroten Lippen waren zu einem grotesken "O" verzogen, seine Augenbrauen wanderten die Stirn hoch bis unter die dünn gewordenen Haarsträhnen. Sorgenvoll warf er einen Blick auf seine hohen Geheimratsecken. Eher Günter Netzer als John Lennon, dachte er missmutig. Sein Blick glitt von seinem Spiegelbild ab. Er schob den Schminkstift zurück in die Schutzkappe und versenkte ihn in seiner Hosentasche in der auch der Lippenstift steckte, als er plötzlich von unten aus dem Flur Geräusche hörte.

Hastig wischte er sich mit beiden Handflächen die Wangen. „Ansgar?“ Schweißperlen traten ihm aus allen Poren.

„Jemand zu Hause? Ich bin`s!“

 

Nervös nestelte er an den Armaturen und warf sich händeweise das kalt hervorschießende Wasser ins Gesicht. Blind griff er nach einem Handtuch, rieb sich Gesicht, Hals, Nacken und Achselhöhlen trocken, und stopfte das Handtuch zuunterst in den Wäschekorb. Mit klopfendem Herzen versuchte er sich einzuprägen, dass er sich um die nächste Ladung Wäsche würde kümmern müssen, und dass er es um Himmels Willen nicht vergessen durfte!

Er versuchte sein Haar zu ordnen, gab es dann aber auf.

 

„Bin im Baad!“, rief er eine kleine Terz hinauf und wieder hinunter und betätigte die Klospülung,

nur damit es auch so klang. Als ob er ein Alibi bräuchte.

 

***

 

 

„Hättest du nicht Lust, an die See zu fahren? Übers Wochenende?“, fragte er, als er sie einen

 

Moment später in der Küche antraf. Murrend verstaute Marlene den Einkauf.

 

„Geh weg …", stöhnte sie, schob Bukowski mit einem Fuß zur Seite, und erhob sich aus dem Durcheinander aus Taschen und Tüten. Eine Essigflasche rollte unter den Tisch. Flüchtig drückte sie Ansgar einen Kuss auf den Mund. Er wich ein Stück zurück, berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen und ließ die Hand dann schnell in seiner Hosentasche verschwinden.

„Ich? Ein Wochenend-Trip? Willst du mich loswerden?“, fragte sie. Ihr Blick schweifte geistesabwesend durch die Küche.

„Nein, wir beide natürlich!“, sagte er und fuhr etwas kurzatmig fort: „Mal wieder raus hier. Tapetenwechsel. Sand, Wind, Seeluft …“

„Naja, warum nicht?“, entgegnete sie unschlüssig. „Aber dieses Wochenende wäre vielleicht ein bisschen plötzlich. Ich hab' noch so viel Schreibkram.“

"Kannst du doch mitnehmen", warf Ansgar aufgekratzt ein. Marlene runzelte die Stirn. Längst war sie wieder in den Tiefen von Einkaufstaschen, Schränken und Kühlschrank verschwunden und wandte Ansgar, der immer noch in der Tür stand, den Rücken zu.

„Ich weiß nicht“, seufzte sie. „Ich bin da wirklich nicht drauf eingestellt.“

 

Im selben Augenblick schrillte die Türklingel. Bukowski bellte lautstark los.

 

„Nicht jetzt …“, seufzte Marlene. Aus dem Augenwinkel sah sie Ansgar Richtung Haustür entschwinden. Kurz hoffte sie es wäre Nachbar Paul, der Ansgar zu einem spontanen Lauftraining einladen wollte. Stattdessen war es Ansgars Mutter.

Edith Langkau, eine knochige graue Erscheinung, umgeben von einer Aura der Unnachgiebigkeit, begrüßte ihren Sohn, dann glitt sie an ihm vorbei in Richtung Küche, wo Marlene die Stirn an die offene Kühlschranktür lehnte.

„Hallo Edith“, brachte sie heraus und fuhr plötzlich ungehalten auf: „Buko jetzt geh halt auf deinen

 

Platz!“ Die Hündin trottete mit hängendem Kopf aus der Küche.

 

„Hallo Marlene“, entgegnete Ansgars Mutter.

 

„Waren wir … verabredet? Dieses Wochenende?“, fragte Marlene lahm und massierte sich die Stirn.

 

„Hätte ich mich besser angemeldet?“, stellte Edith mit großen Augen fest und ohne eine Antwort abzuwarten, redete sie weiter: „Ich habe ein paar Sachen im Kofferraum. Junge, kannst du die mal eben …?“ Ansgar eilte aus dem Haus.

Marlene verdrehte die Augen. Mit Armen, schwer, als bewegte sie sie unter Wasser, hob sie eine

Packung Kaffee aus einer Tüte und stellte sie in den Küchenschrank über ihrem Kopf.

 

„Du kommst die vierhundert Kilometer doch nicht einfach auf eine Tasse Tee vorbeigefahren“, sagte sie. „Es könnte immerhin sein, dass wir schon etwas vorhaben, oder gar nicht da sind. Also …“, sie atmete mühsam. „Ich meine du könntest vorher anrufen und nachfragen, ob es uns recht ist, dass du kommst.“

„Aber ihr seid doch da und wenn ihr was vorhabt …“, Ediths fahlblaue Augen flackerten, „ …das macht mir nichts aus. Ich mache mich einfach nützlich und ihr könnt tun, was immer ihr tun wollt.“ Sie nickte mit ausdruckslosem Blick, als wolle sie sich ihren Plan selbst bestätigen. „Ihr werdet sehen das passt gut und ich verspreche, ich bin euch nicht im Wege. Ihr werdet mich nicht einmal bemerken!“ Ihr drahtig graues Haar erzitterte.

„Und wenn wir vorhatten, ans Meer zu fahren?“, griff Marlene Ansgars Vorschlag wieder auf, wissend, dass er dadurch nicht mehr Gewicht bekäme, sondern sich endgültig als Seifenblase erwies.

„Ihr fahrt ans Meer?“, stotterte Edith.

 

Ansgar, der mit Ediths Gepäck beladen zur Tür hereinkam, blieb abrupt stehen.

 

„Nein …“, murmelte Marlene. „Ist nur so eine Idee gewesen. Vorhin.“

 

„Prima, dann ist doch alles gut!“ Edith nickte ihrem Sohn zu und bedeutete ihm mit wortloser Geste, die Koffer nach oben zu bringen. Keine zehn Minuten nachdem sie an der Tür geschellt hatte, streifte sich ihre Hausschläppchen über und bezog das Gästezimmer.

„Du hättest ja auch mal was sagen können“, zischte Marlene als sie oben die Zimmertür klappen hörte.

„Was denn, deiner Meinung nach?“, gab Ansgar zurück. Fahrig griff er nach einer leeren Tüte, knüllte sie zusammen und stopfte sie in den Mülleimer.

„Sie hätte sich zum Beispiel ein Hotelzimmer nehmen können!“

 

„Und wozu haben wir dann das Gästezimmer?“ Wütend sah er sie an.

 

Marlene starrte wütend zurück und schwieg verbissen. Dann verstaute sie einen Blumenkohl, der das Durcheinander von Ediths Ankunft in einer Einkaufstasche überdauert hatte, im Gemüsefach.

„Ach was weiß denn ich“, sagte sie. Mechanisch öffnete sie den Mülleimer, nahm die von Ansgar zusammengeknüllte Plastiktüte wieder heraus und stopfte sie in das Abteil für den Recyclingabfall.

„Ist ja gut“, sagte Ansgar recht laut und räusperte sich.

 

„Was?“, fragte Marlene zornig, den Kopf immer noch über dem Mülleimer, in dem sie rastlos

 

Abfall hin und her sortierte und plötzlich schaltete sich Edith wieder ein:

 

„Am besten, ich mache uns jetzt ein schönes Abendessen.“ Marlene fuhr zusammen und drehte sich zu ihr um. Edith saß auf einem Küchenstuhl am Tisch, als wäre sie nie oben im Gästezimmer

gewesen.

 

„Woher …“, stotterte sie. „Wie …“ Dann streifte ihr Blick Ediths wattierte Hausschläppchen. Ansgar fixierte den Fußboden. Marlene sah von einem zum anderen, dann verließ sie wortlos die Küche

und ging die Treppe hinauf ins Bad.

 

„Verdammt!“ Sie schloss die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel zweimal um, stemmte die Fäuste in die Hüften und stand sinnlos gefangen zwischen Waschbecken, Wäschekorb und Duschkabine.

„Verdammt!“, wiederholte sie.

 

Aus der Küche flatterte ein dünnes Lachen ins Treppenhaus und bis hinauf zu ihr. Ansgar, dachte sie. Unsicher wie ein Siebtklässler. Seine Stimme sang und kiekste. Edith antwortete unverständlich. Schranktüren klappten. Töpfe schepperten. Jemand drehte das Küchenradio an. Ein munterer Moderator warf sich in die Schlacht und übertönte das Geschehen mit lauter Wochenendleutseligkeit. Marlene schlug die Hände vor das Gesicht.

Für einen Moment sah sie sich an Ediths Haaren reißen, sah, wie sie Ansgar ins Gesicht schlug, sah, wie sie ihn am Kragen packte und schüttelte. Sie stützte sich auf den Rand des Waschbeckens. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Auf der Ablage vor ihr flehten Ediths Haar-, Zahn- und Nagelbürste, stumm um Nachsicht. Marlene seufzte.

Der Abend war grauenvoll. Eingeschnürt in eine verblasste Kittelschürze fabrizierte Edith ihre

 

Hausmannskostvariante eines mediterranen Gerichtes.

 

„Minestrone!“, verkündete sie und hob eine kesselgroße Suppenterrine von der Anrichte. Ansgar sprang auf und nahm ihr die dampfende Servierschüssel ab. Wo zum Teufel hat sie die bloß gefunden?, fragte sich Marlene und schob müde die Teller beiseite, um Platz für das Ungetüm zu schaffen, das Edith ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Die Luft in der Küche war klamm. Marlene war, als hingen Bukowskis Ausdünstungen über dem Esstisch. Ansgar redete hektisch und mit erhitztem Gesicht von der Musikschule. Edith schaufelte sich stumm, Löffel für Löffel, die Gemüsesuppe in den Mund. Marlene versuchte sich in eine Art Trance zu versetzten, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Ansgar sich, mit jedem weiteren Wort, weiter in diesen blankhäutigen Schuljungen verwandelte, der eifrig versuchte die Mutter glücklich zu machen. Jede seiner Bewegungen zersprang in kantige Bruchstücke.

„Schmeckt's dir nicht?“ Ediths Augen hefteten sich auf Marlenes Teller.

 

„Doch, doch“, murmelte sie und hob den vollen Löffel vor ihren Mund, wo er verharrte.

 

„Wahrscheinlich hat sie keinen Appetit“, erläuterte Ansgar Marlenes Missmut. „Sie kriegt hin und wieder Migräne bei dem Wetter, nicht wahr?“ Beflissen nickte er seiner Frau zu. Marlene reagierte nicht.

„Ist nichts Schlimmes, geht vorüber“, plapperte er, tunkte ein Stück Toast in die Suppe und schob es sich zwischen die Lippen.

Mitten in der Nacht rissen Marlenes rebellierende Eingeweide sie aus einem flachen Schlaf und zwangen sie auf wattigen Beinen zu einem Sprint ins Bad. Sie fror und schwitzte gleichzeitig, während sich ihr Verdauungstrakt schlagartig entleerte. Sie verfluchte jeden einzelnen Bissen, den sie in mühsamer Selbstbeherrschung herunter gewürgt hatte. Dann wechselte sie das feuchte Nachthemd, öffnete das Badezimmerfenster und atmete erleichtert die nächtliche Frühlingsluft. Es war ein ungewöhnlich warmer Vorfrühling. Ein sachter Wind bewegte die Blätter des Efeus, der am Haus empor kletterte.

 

***

 

Als sie am Montag früh die Treppen zu den Katakomben der Berufsschule hinabstieg, steckten ihr die Nachwirkungen des Wochenendes noch in den Knochen. Sie war unausgeschlafen und hatte die letzten beiden Nächte mit Übelkeit und Alpträumen gekämpft.

Das Schulgebäude war ein hässlicher, krakenartiger Kasten aus den sechziger Jahren, dessen Flügel in den flachen Hang hineingegraben worden waren.

Marlene war so müde, dass sie die vereinzelt sich zu losen Grüppchen versammelnden Schüler in dem dunklen Gang kaum wahrnahm. So registrierte sie nur am Rande, dass vor ihrer Bürotür sich ein Mann postiert hatte, der nicht zum Kollegium gehörte. Sie erkannte ihn erst, als er auf sie los stürmte und sie mit lauthalsen Beschwerden überhäufte, die sich in ihrem Bewusstsein erst nach und nach entwirrten.

Offenbar hatte Jan Hofmeister, sein Sohn, den er ungeniert als „diese Missgeburt“ bezeichnete, sich seit Wochen nicht in seinem Betrieb blicken lassen, was zur Folge hatte, dass der Meister der Zimmerei zu Hause beim Vater aufgekreuzt war und wütend nach seinem Praktikanten verlangte. Hofmeister schloss daraus messerscharf, dass sie, Marlene Langkau, ihrer Pflicht nicht nachgekommen war, seinen Sohn diese Missgeburt, zu kontrollieren und so zu verhindern, dass dieser wochenlang sein Betriebspraktikum schwänzte. Marlene ließ die Tirade über sich ergehen und schloss die Bürotür auf.

„Kommen Sie doch erst einmal herein, Herr Hofmeister, wir müssen das doch nicht hier auf dem Flur besprechen“, sagte sie, stellte ihre Tasche auf ihrem Schreibtischstuhl ab und startete den Computer. Jans Vater zeterte weiter, ohne auch nur Luft zu holen.

„Wofür zahle ich denn meine Steuern, wenn dieser Staat dann nicht mal in der Lage ist, fähige Lehrer einzustellen, hä?!“, tobte er. „Glauben Sie, ich kann nach dem Tod meiner Frau den Hof allein versorgen und dabei auch noch meinen Herrn Sohn rund um die Uhr beaufsichtigen?!“ Auf Hofmeisters schuppig bleicher Haut erschienen fliederfarbene Flecken. Er kratzte sich die

Bartstoppeln. Dann hackte er mit dem Zeigefinger in die Luft und schnauzte: „Was tun Sie hier eigentlich? Hocken sie nur in ihrem Büro oder was, oder kümmern Sie sich auch um ihre missratenen Schüler?“

Marlene meinte einen schwachen Dunst von Alkohol und Schimmel wahrzunehmen, war sich aber nicht sicher, ob ihre überreizten Nerven ihr etwas vorgaukelten. Immerhin roch es in diesem ganzen Gebäude nicht besonders gut.

Während Marlene Hofmeister mit wachsendem Unmut zuhörte, kämpfte sich ihre Kollegin Katja durch das Gedränge der Schüler ins Büro. Katja grüßte sie mit einer mitleidigen Grimasse in Richtung Hofmeister. Dann warf sie ihre Lederjacke in ihre Ecke des Büros, schnappte sich ein paar Unterrichtsutensilien und verschwand wieder in den Tiefen des Gebäudes.

„Was auch immer Jan ausgefressen haben mag“, fiel Marlene schließlich Hofmeister ins Wort.

 

„Eines möchte ich klarstellen: ihr Sohn ist nicht missraten und auch keine Missgeburt und ich möchte nicht, dass Sie hier weiter in diesem Tonfall reden.“

Hofmeister stutzte, räusperte sich und kratzte sich durch seinen löchrigen Pullover den Bauch.

 

„Sie würden schließlich auch nicht wollen“, setzte sie hinterher, „dass Ihr Sohn in aller

 

Öffentlichkeit einen solchen Ton anschlägt, oder?“

 

Hofmeister machte große Augen „Na schön, wie sie wollen.“ Er fuchtelte mit einer Hand vor Marlenes Gesicht herum und zog eine Grimasse, die wohl ironisch wirken sollte, oder auch triumphierend. „Was gedenken Sie also im Falle meines famosen Erstgeborenen zu unternehmen, gute Frau?“

Marlene zählte im Stillen bis drei und erklärte, sie würde sich Jan nach dem Unterricht vorknöpfen, sofern er erschien, und lotste Hofmeister schließlich in Richtung Tür. Sie müsse den Unterricht pünktlich beginnen, das würde er sicher verstehen.

Innerlich knirschte sie immer noch mit den Zähnen, als sie ihre Klasse erreichte.

 

Eine einzige Schülerin hing im Klassenraum müde über ihrem Tisch. Es war Caro Reinbach, die sich so unregelmäßig in der Schule blicken ließ, dass in ihrer Überraschung die Worte schon heraus waren, bevor Marlene sich besinnen konnte.

„Du? Hier?“, rief sie.

 

Caro zuckte zusammen und feuerte einen giftigen Blick ab.

 

„Gar kein Problem, Frau Langkau, ich kann auch wieder gehen.“

 

„So war das nicht gemeint!“ Marlene verfluchte sich im Stillen.

 

Caro murrte etwas Unverständliches und starrte dann wieder Löcher in die Tischplatte. Ihr dunkles Haar, ein undefinierbarer Filz aus stumpfen Strähnen, tief in die Stirn gezurrt, verschattete die schwarz umrandeten Augen. Es war unklar, ob sie nun Gothic, Manga oder Punk war. Über grellen

Leggings trug sie einen Minirock in rotem Schottenkaro, einen löchrig gehäkelten langen schwarzen Mantel, der eigentlich auch gut in eine Londoner Boutique gepasst hätte und zu alldem einen unmotiviert farblosen, verwaschenen Kapuzensweater. Die Krönung des Outfits bestand aus einem wuchtigen Nietengürtel und klobigen Boots, die mit weißen Schnürsenkeln gebunden waren.

„Ich freue mich doch, dich hier zu sehen. Ich wünschte nur, das wäre öfter so.“

 

„Wieso“, knurrte Caro, ohne ihre Frage als solche zu betonen.

 

„Weil ich finde, dass du was aus dir machen könntest“, sagte Marlene.

 

„Wieso was aus mir machen? Bin ich denn nichts?“ Ihr bleicher Blick hob sich wie ein

 

Suchscheinwerfer und landete in Marlenes Augen.

 

„Natürlich bist du was. Aber du könntest mehr aus dir machen. Mehr, als sich in deinem letzten Zeugnis zeigt zum Beispiel. Es würde sich lohnen, nicht alles nur laufen zu lassen. Es würde sich lohnen ein bisschen für deine Ziele zu arbeiten.“

Caro grunzte, hob an etwas zu erwidern, ließ es dann aber mit einem demonstrativen Seufzer sein und blickte aus dem Fenster. Ihre Lehrerin existierte für sie nicht mehr.

Marlene hob ihre Tasche auf den Lehrertisch, dann ging sie zur Tür, um einen Blick in den Flur zu werfen. Am Ende des Ganges sah sie Titus' Clique in zögerlicher Bereitschaft, Richtung Aula zu entschwinden.

„Titus, Viktor, Fabian, hier geht`s rein!“, rief sie den Gang hinunter. Die Worte klangen unangenehm dünn in ihren Ohren. Sie holte Luft und versuchte ihrer Stimme Gewicht zu verleihen.

„Und bringt gleich auch noch die anderen mit!“ Dann verschwand sie wieder in der Klasse, wendete sich dem Whiteboard zu und wischte die Spuren der vorangegangenen Stunde weg.

Es dauerte noch eine Weile bis die Jungen in den Klassenraum schlenderten. Lucy und Adèle tröpfelten hinterher. Jetzt hatte sie schon sechs Schüler, das war geradezu ein Anfang.

„Ich wollte heute mit euch eine Auktion machen“, sagte sie. „Da könnten wir noch ein paar mehr gebrauchen. Weiß jemand wo der Rest von euch ist?“

„Heeey das gibt`s ja nicht, Caro ist hier!“, grölte Viktor, die Frage ignorierend und fläzte sich in seinen Stuhl. Caro warf einen gelangweilten Blick über ihre Schulter und ließ etwas verlauten das nach „wenn schon“ klang oder auch nach irgendetwas sonst. Dann zupfte sie weiter an der vor ihr zu einem Haufen zusammengeknüllten Schultertasche herum, wühlte dann darin nach etwas und ließ auch das wieder sein.

„Was'n für ne Aktion?“, erkundigte sich Fabian, seine Stimme wie in einem dauerhaften Gähnen gefangen. Auf seinem Gesicht lag eine Art verschlafenes Grinsen aus strahlend blauen Augen. Anfangs war Marlene von diesem leuchtenden Blau so irritiert, dass ihr beinahe die Frage herausgerutscht wäre, ob er gefärbte Kontaktlinsen trug. Sie war froh, dass es ihr gelang die Frage für sich zu behalten und mühte sich tagelang, ihn nicht immer wieder anzustarren. Als sie seine

Mutter kennen lernte, wusste sie, dass dieses Himmelblau in der Familie lag.

 

„Eine Auktion, nicht Aktion“, korrigierte sie und betonte die Silben. „Wir machen heute eine Werte- Auktion. Was das ist, erkläre ich, wenn vielleicht noch der ein oder andere eingetrudelt ist, sonst muss ich das noch x-mal wiederholen.“

Während der nächsten Minuten kamen Jassy und Carl und nun waren sie bei acht von vierzehn vorgesehenen Schülern und das war ein guter Schnitt, also fing Marlene eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn mit ihrem Vorhaben an.

Manchmal war diese Einheit schon zu regelrechten Tumulten ausgeartet, weil zwei Gruppen gegeneinander antraten, um Werte wie Reichtum oder Glück, Liebe und Freiheit zu ersteigern, um eine Gesellschaft zu gründen, aber Tumulte würde es wohl bei acht Teilnehmern nicht geben. Sie hoffte, in der anschließenden Diskussion bei ihren Schülern den ein oder anderen Gedankengang anstoßen zu können, gab in diese Hoffnung allerdings nicht mehr allzu viel Energie. Die ernüchternde Lebenswirklichkeit ihrer Schüler stand den Werten um die es hier ging, mit manchmal geradezu erschlagender Wucht entgegen.

Die Übung verlief an diesem Morgen sowohl ohne größere Schwierigkeiten, als auch ohne größeren Erfolg. Der einzige Wert, der heftigeren Einsatz beim Ersteigern auslöste, war der Wert Reichtum und die leer ausgehende Gruppe wollte nicht mehr weitermachen. Marlene kämpfte sich durch die abschließende Diskussion die aus ihren zähen Nachfragen, langen Episoden ratlosen Schweigens und einem abschließenden Erklärungsversuch bestand, was nun ihrer Ansicht nach die unterschiedlich aus der Werte-Auktion hervorgegangenen Gesellschaften ausmachte. Dann kehrte

sie mit dem Gefühl, von irgendetwas besiegt worden zu sein, ins Büro zurück.

 

„Was wollte denn der Hofmeister heute früh?“, empfing Katja sie von ihrem Schreibtisch aus, während sie sich das kurze platinblonde Haar am Hinterkopf zurecht zupfte.

„Ach, der“, seufzte Marlene mit dem irrealen Gefühl, dass diese Episode schon seit Tagen hinter ihr lag. „Jan war nicht im Betrieb und das wohl schon länger und das, obwohl er seine Berichte immer fein säuberlich abgegeben hat.“

„Oh wow – nicht schlecht!“, lachte Katja und setzte hinterher: „Soll ich mal mit ihm reden?“ Marlene hob kurz die Augenbrauen. „Danke, nicht nötig“, antwortete sie.

„Der macht dir aber doch schon seit Lehrgangsbeginn zu schaffen, oder?“

 

„Das ist doch schließlich sein Job“, konterte Marlene und rüstete sich für das, was jetzt kommen würde.

„Ich denke, ich könnte den schon knacken, der wäre genau mein Kaliber …“ Katja blickte versonnen auf ihre schwarz lackierten Nägel. „Ich hab`s ja mit den besonders Schwierigen“, fügte sie hinzu und blähte lüstern die Nasenflügel.

„Lass mal, ich denke, das kläre ich schon selbst“, entgegnete Marlene kurz und versuchte ihr Unbehagen aus ihrer Stimme herauszuhalten, was die Worte fadenscheinig machte. Sie hoffte, dass ihre Kollegin endlich von selbst den Mund hielt.

„Sag einfach Bescheid, wenn du nicht weiterkommst. Das zweite Halbjahr ist schnell vorbei und du weißt ja: wir brauchen vorzeigbare Ergebnisse“, betonte Katja und rieb ihre Nägel

gedankenverloren an ihrer Jeans.

 

„Mach dir mal darüber keine Sorgen“, sagte Marlene, kam sich irgendwie wolkig dabei vor und war selbst überrascht, als sie hinzufügte: „Aber wenn ich genug von den Auftritten seines Vaters habe, dann kannst du dir den ja gerne mal zur Brust nehmen.“ Dann schnappte sie sich ihre Tasche und floh aus dem Büro, die Tür eine Spur zu laut hinter sich schließend.

 

***

 

 

Ansgar band sich die Laufschuhe zu, hakte Bukowskis Leine an ihr Halsband, schloss die Tür hinter sich und trabte den Weg zum Nachbarhaus hoch, um Paul abzuholen. Er klingelte, hüpfte vor der Haustür auf der Stelle und klingelte gleich noch einmal, um Paul Beine zu machen. Ansgar musste sich dringend den Frust über all diese blöden Weiber aus dem Körper laufen, ganz gleich ob das

jetzt seine Frau, seine Mutter oder diese nervtötende Töle an der Leine war, die allesamt ständig an ihm zerrten. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen! Ansgar grinste grimmig und klingelte zum dritten Mal. Er schnaufte jetzt schon, obwohl er noch keine fünfzig Meter weit gekommen war. "Was ist denn mit dir los?!", fragte Paul als er, sich das Sweatshirt über den Kopf zerrend, die Tür aufriss. "Es ist doch noch nicht einmal vier, da brauchst du wirklich nicht Sturm klingeln, wenn du zu früh kommst. Mensch!"

"Stell dich mal nicht so an, du Memme", feixte Ansgar und pfefferte Paul seine Hand ins Kreuz. "Lass uns einfach losmachen. Hier…“, er hielt Paul die Leine hin. „Kannst du Buko nehmen? Die geht mir heute derart auf den Zeiger."

"Klar, die Buko nehm ich gerne.“ Paul nahm die Leine. “Und wenn du sie mal für immer loswerden willst, du weißt ja, wo ich wohne. Keine Ahnung, was du überhaupt gegen diese entzückende Dame hast!" Paul grinste breit, ging vor der Hündin, die ihm die feuchten Barthaare ins Gesicht drückte, in die Knie und kraulte ihr den Kopf. Buko blinzelte unter halb geschlossenen Lidern und machte

einen langen Hals.

 

"Die übliche Route?", drängelte Ansgar. "Die übliche Route."

"Hinterher ein Bier?"

 

"Hinterher ein Bier!", bestätigte Paul. Dann setzten sie sich in einen leichten Trab in Richtung

Rübenfelder.

 

Ansgar merkte, dass Paul ihn auf den ersten Metern von der Seite her musterte. Sie kannten sich zwar erst ein paar Monate, aber Paul Stein gehörte zu den Leuten, denen er nicht leicht etwas vormachen konnte.

"Stress gehabt?", erkundigte sich Paul bei der ersten Weggabelung, an der sie links in Richtung

 

Kanal einbogen.

 

"Kann man wohl sagen", brummte Ansgar. "Weißt du, eine Frau im Leben und all das, … ist ja schön und gut, aber Frau und Mutter an einem Wochenende, das kann einem echt den Rest geben!" "Welche war denn schlimmer? Doch bestimmt die Mutter oder nicht?"

"Ach, das kann ich so nicht sagen", meinte Ansgar. "Mit meiner Mutter ist es nicht schwer auszukommen, wenn man weiß, wie sie zu nehmen ist. Nur Marlene kann sich derart querstellen, dass es einfach nicht entspannt ablaufen kann, weißt du?"

"Nein, eigentlich nicht. Probleme mit der Schwiegermutter-Tochter-Kombination hatte ich nie."

 

„Wen wundert's“, stichelte Ansgar. „Du warst ja nie verheiratet.“ Paul ignorierte den Einwurf. "Was gab es denn für Differenzen?"

"Nicht eigentlich Differenzen, aber diese Stimmung! Marlene kann so was echt gut versauen. Sie ist so verdammt … schwierig!"

Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann fuhr Ansgar fort: "Sie schafft es durch so kleine giftige Bemerkungen oder ihre ewig saure Miene, sobald sie meine Mutter nur sieht."

"Und was hat sie gegen deine Mutter?", fragte Paul.

 

"Sie kann halt einfach nicht mit ihr. Vielleicht liegt`s auch daran, dass Marlene andere Menschen in ihrem Haus nicht erträgt. Da verteidigt sie ihr Revier, wie eine angeschossene Löwin!"

Ansgar war dabei sich in Rage zu reden. Paul ließ Buko von der Leine und beschäftigte sie, während sie weiter liefen, mit einem Tennisball, den er immer für sie mitnahm.

„Also, wenn ich bei euch bin, kommt mir Marlene nicht vor wie eine, die ihr Revier verteidigt“, murmelte Paul, doch Ansgar hörte gar nicht hin.

"Meine Mutter, die ist nicht so wie andere“, sagte er. „Sie kümmert sich halt. Die Familie besteht für sie doch nur noch aus mir. Da kann man ihr doch nicht verdenken, dass sie mal spontan vorbeikommt …"

"Spontan?", platzte Paul, etwas außer Atem, heraus. "Dachte die wohnt in Bremen?" Er blieb stehen, holte mit dem rechten Arm weit aus und warf den Tennisball ins Feld. Bukowski machte einen Satz und schoss dem Ball hinterher.

"Bremerhaven", korrigierte Ansgar und entrüstete sich dann: "Und wenn schon. Ich bin doch immerhin ihr Sohn. Ich meine sie ist doch meine Mutter! Ich frage doch, wenn ich zu Hause bin, auch nicht extra bei Marlene an, ob ich zu ihr ins Wohnzimmer kommen kann.“ Ansgar verhedderte

sich, schwieg eine Sekunde, sprach weiter: „Zum Beispiel! Schließlich sind wir verheiratet! Und meine Mutter, … das ist doch schließlich Familie … sie muss mich doch nicht extra fragen, wenn sie vorbeikommen will.“

Paul betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Inzwischen waren sie stehen geblieben und Buko hockte hechelnd vor Paul und fixierte sein Gesicht.

"Also ehrlich gesagt, ich weiß nicht", meinte dieser. "Deine Mutter – Marlene, Bremerhaven und euer Wohnzimmer. Meinst du wirklich das kann man so in einen Topf werfen?" Er warf den Ball und setzte sich wieder in Trab.

Ansgar brauchte ein paar Schritte, um aufzuschließen. Missmut belegte seine Stimme, als er schließlich weiter sprach: "Ich hasse diese Besuche, wenn alles so kompliziert läuft. Ich sitze immer zwischen den Stühlen. Und ich will da nicht sitzen, begreifst du das nicht? Ich habe ja nichts dagegen, wenn meine Mutter da ist. Egal wie spontan. Sie kennt mich mein Leben lang und weiß, wie sie mich zu nehmen hat. Marlene dagegen …" Ansgars Stimme klang gehetzt.

Paul stoppte wieder. "Du weiß aber schon, wie sich das jetzt anhört?", fragte er.

 

Ansgar, der weitergelaufen war, drehte sich zu ihm um. "Nee, wieso, wie hört sich das denn an?" Seine Augen blitzten gereizt.

Paul trabte wieder an. "Wie Ödipus, … du weißt schon …"

 

"Du bist ja bescheuert!", lachte Ansgar auf und versteckte hinter dem Lachen knisternde Wut. Paul hat doch keine Ahnung!, höhnte er im Stillen. Er hat ja keine Frau, geschweige denn eine Freundin, oder auch nur eine Bettgeschichte. Dann wandte er sich laut an Paul: "Und vielleicht hörst du endlich auf, uns hier ständig auszubremsen und läufst mal durch wie`n Kerl, sonst stimmen die Ergebnisse auf meiner Pulsuhr nicht mehr mit meinem Trainingsplan überein."

"Echte Kerle laufen ohne", brummte Paul.

 

Stumm liefen sie einige hundert Meter am Kanal entlang. Eine erste Feldlerche stand im Himmel und sang eine komplizierte Strophe nach der anderen zu ihnen hinunter. Ein helles Zwitschern, das Sehnsucht nach Leichtigkeit und Sommer in die Luft sprenkelte. Der gleichförmige Trab ihrer Schritte klang dagegen schwer auf dem Asphalt. Dann fragte Ansgar plötzlich: "Wie hältst du es denn eigentlich aus, so ganz ohne?"

"Ohne was?", fragte Paul. "Ohne Frau!"

Paul schwieg eine Weile und warf Ansgar aus dem Augenwinkel einen Blick zu. "Naja", sagte er dann vage. "Man gewöhnt sich dran. Es gibt Wichtigeres."

"Ach ja und was?!"

 

"Also", meinte Paul. "Erst einmal ist da mein Job, das Haus, meine Basteleien, Freunde, … vor allem das Boot. Ich will es demnächst herüber holen von der Schelde. Muss neuer Lack drauf.

Wieso fragst du eigentlich?"

 

"Ach nur so", kam es kurz angebunden von Ansgar, der damit das Thema beendete. Mit Paul war einfach kein gescheites Männergespräch zu führen, grollte er innerlich. Ständig blieb er auf den heißen Kohlen sitzen, die er mit keinem Mann jemals besprochen hatte. Nicht einmal mit den Frauen aus seiner Mailingliste, in die sich auch kein Mann verirrte. Frauen, dachte er und spuckte aus. Ich bin umzingelt von Frauen. Selbst Paul ist doch kein echter Kerl.

Der Lauf endete in gestocktem Schweigen. Und obwohl sie sich zu Beginn auf ein Bier zum Abschluss verabredet hatten, griff Ansgar, als sie wieder zum Ortsrand kamen, schweigend nach Bukowskis Leine, verabschiedete sich wortkarg und stiefelte ohne weiteren Kommentar die wenigen Meter weiter bis zu seiner Haustür. Von dort nickte er noch einmal kurz zu Paul hinüber und verschwand im Innern des Hauses.

 

***

 

 

Die sanften Strahlen der Nachmittagssonne wärmten mild, als Marlene vor der Haustür nach dem Schlüssel kramte und sie beschloss, sich nicht sofort wieder an den Schreibtisch zu setzen, um die Förderpläne zu schreiben, die sie dank Ediths Überfall am Wochenende nicht geschafft hatte. Sie wollte nach den Setzlingen im Gewächshaus sehen, die sie bereits vor Wochen ausgesät und dann wieder vergessen hatte. Wenn sie Glück hatte, lebten vielleicht noch einige.

Im Flur lag Bukowski wie tot in ihrem Korb. Marlene ging hinauf, verstaute ihre Tasche im Arbeitszimmer, streckte ihren steifen Rücken, wechselte hinüber ins Schlafzimmer und zog sich um. Hinter der Badezimmertür rauschte Wasser.

Immer noch schwirrte ihr die Unterhaltung mit Katja im Kopf herum und sie fragte sich, ob ihr eigener Unmut der Kollegin gegenüber jemals so konkret werden würde, dass sie ihn deutlicher zu fassen kriegen und eine gescheite Antwort daraus hervorbringen konnte. 'Ich hab's ja eher mit den Schwierigen' äffte sie Katja in Gedanken nach. 'Ich könnte den schon knacken.' Sie schüttelte sich und ging die Treppe wieder hinunter ins Erdgeschoss.

Gedankenverloren öffnete sie sie Terrassentür zum Garten und ließ die nach Erde und Grassoden duftende Luft hinein. Sie lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete die rötlich anschwellenden Zweige des Hartriegels, deren glänzende Färbung das Ende des Winters endgültig besiegelten. So wie es aussah, würde sich in diesem Jahr selbst der April schwer tun, den Frühling mit letzten Schneeschauern noch hinzuhalten, dachte sie um Zuversicht bemüht. Sie fröstelte und rieb sich die blassen Hände. Sie sah die Sonne, roch die Erde und empfand nichts.

Was saugte bloß alle Wärme aus ihrem Leben? Sie seufzte, überlegte, wann sie das letzte Mal einen

unbeschwerten Moment erlebt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern.

 

An ihrem erstem Arbeitstag an der Berufsschule hatte Marlene Katja Peissig in einem Gespräch mit drei Schülern aufgestört, als sie das gemeinsame Büro betrat. Katja hockte mit den Jungs in diesem winzigen Raum, versunken in einer Dunstwolke aus dichtem Zigarettenqualm und schwüler Intimität. Marlene hatte sofort das Gefühl in einem unpassenden Moment gekommen zu sein. Katja, die Cowboystiefel unterm Drehstuhl verkreuzt, Ellbogen auf dem Schreibtisch und Kinn in die

Hand gestützt, blinzelte den Zigarettenqualm aus dem Auge, als sie Marlene endlich registrierte, und setzte dann ein lässiges Grinsen auf.

„Oh“, schnurrte sie. „Du bist sicher die neue Kollegin.“ Ihre Mundwinkel hoben sich kaum merklich zu einem seltsam undefinierbarem Lächeln.

Damals schon war es dieses unklare Lächeln. Angespannt und wie mit hartem Bleistift ins Gesicht gezeichnet. Es wurde auch all die Jahre danach nie deutlich, was es zu bedeuten hatte. Immer spiegelte es mindestens zwei Regungen gleichzeitig: verschwörerische Kumpanei und kühle Belustigung, sattes Mitleid und latente Verachtung, echtes Verständnis und milde Arroganz.

Ein verwirrendes Vexierbild. Ein Gesicht, in das man nicht hineinsehen konnte. Ein Mienenspiel an dem der eigene Blick keinen Halt fand und abglitt.

Marlene schüttelte den Kopf. Als gäbe es nicht schon genug Rätselhaftes in ihrem Leben, auf das

 

sie keine klaren Antworten fand! Antworten, die ihr den Raum, die Freiheit und die Luft zum Atmen verschafften.

Manchmal war ihr, als ersticke sie allmählich in einem Nebel aus lauter Doppeldeutigkeiten. Ein kleiner Schwarm Spatzen flog auf, als sie schließlich in den Garten hinaustrat und sofort erscholl aus der Hecke wildes Gezwitscher. Warnlaute von Amseln oder anderen Singvögeln, die lautstark ihre Reviere verteidigten. Marlene blieb ein paar Sekunden stehen, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und versuchte das Friedliche der Szenerie in sich aufzunehmen. Stattdessen überfielen sie Bilder von Vögeln, die mit spitzen Schnäbeln aufeinander ein hackten, hinter ihren geschlossenen Augen. Bilder von schlagenden Flügeln und kratzenden Krallen. Sie gab sich einen Ruck und überquerte den Rasen.

Im Gewächshaus war es brütend warm. Sie öffnete ein paar Dachluken. Die im frischem Frühlingsgrün strotzenden Setzlinge reihten sich rings um auf den schmalen Pflanztischen. Sie wunderte sich, dass nicht die meisten verdorrt waren. Hatte etwa Ansgar sie mit Wasser versorgt? Vorsichtig strich sie über das weiche Laub der Tomatenstauden, spürte die Feuchtigkeit des Pflanzensaftes aus den pelzigen Stängeln an ihren Fingern und roch dessen herbe Würze, die sofort die warme Luft unter dem sonnendurchfluteten Glas durchtränkte. Dann nahm sie sich eine Schale mit Jungpflanzen und begann diese in größere Tontöpfe umzusetzen.

Sie arbeitete eine Weile versunken vor sich hin und irrte durch die Gedankenleere in ihrem Kopf, als Ansgar leise an der Glastür klopfte und sich durch den Türspalt schob.

„Wie war dein Montag?“, fragte er. Bukowski trottete hinter ihm her, streckte sich gähnend und nahm dabei der Länge nach beinahe den ganzen Mittelgang ein. Ansgars Haare waren noch nass vom Duschen und seine Haut war feucht, als sein Gesicht ihre Wange streifte. Marlene hob abwehrend ihre verschmutzten Hände, lachte und ließ sich mit steifem Rücken von ihm umarmen. Sie kamen beide aus dem Gleichgewicht und hatten Mühe, nicht zu straucheln.

„Es geht so“, antwortete sie. „Caro hat sich endlich mal wieder blicken lassen, der Rest war das übliche Chaos. Und bei dir? Warst du laufen?“

„Ja, war mit Paul unterwegs“, sagte er.

 

„Und sonst?“ fragte Marlene.

 

„Ganz gut. Die Band ist bald soweit, beim Konzert allen die Show zu stehlen und der Klampfenkurs schlägt sich auch ganz wacker." Jetzt taute Ansgar auf und es war ihm anzusehen, wie stolz er auf jeden seiner Musikschüler war. Besonders stolz aber war er auf die AG-Band, die schon einige gute Coversongs zum Besten geben konnte. Er strahlte und erzählte. Marlene versetzte es einen Stich. Unzufrieden mit sich selbst stellte sie fest, dass sie ihn beneidete. Er schien so glücklich mit seiner Arbeit. Angestrengt kämpfte sie die Regung nieder, ihm die Freude mit einer sauren Bemerkung aus dem Gesicht zu wischen. Was war bloß mit ihr los?

„Schön“, sagte sie, rang sich ein Lächeln ab und rieb sich Blumenerde von den Fingern. „Wollen wir essen?“

Ansgar verstummte und blickte sie an. „Warum nicht?“, meinte er.

 

Den lauen Abend verbrachten sie still auf der Terrasse und leerten dabei eine Flasche Burgunder. Ansgar heizte den kleinen Holzofen an. Durch das verrußte Sichtfenster warfen die Flammen ein flackerndes Licht und hin und wieder zerbarst ein Holzscheit. Der Dunst, der sich aus den fernen Kühltürmen des Kraftwerkes über die Landschaft legte, sorgte für einen dramatisch eingefärbten Sonnenuntergang. Stromtrassen schnitten schwarze Linien in das Orange am Horizont.

Marlene sah ihren Mann an. "Wir haben es doch gut, oder?", fragte sie unvermittelt. Ansgar warf ihr einen Blick zu. "Aber sicher. Klar haben wir es gut", antwortete er und betrachtete dann wieder den Abendhimmel. Blinkend kreuzten die Positionslichter zweier ferner Flugzeuge ihre Bahnen.

***

 

 

Später, als sie im Bett lagen, fragte sie ihn: „Könntest du dir vorstellen, Caro in einem deiner Kurse zu haben?“

Hin und wieder hatte sie ihm von Caro erzählt. Von ihrer unnahbaren Widerborstigkeit. Ihrer Scheu. Von ihrem Traum vom Tanz, den sie einmal zu Beginn des Lehrgangs erwähnt hatte.

Ansgars Finger, die sich tastend unter den Rand ihres kurzen Nachthemdes geschoben hatten, hielten in der Bewegung inne.

„Ich weiß nicht. Das kommt vor allem darauf an, ob sie musikalisch ist, oder wenigstens Spaß dran hat. Warum fragst du?“

Marlene rieb sich die Stirn. „Ich dachte nur so. Deine Schüler haben wenigstens Erfolgserlebnisse. Ich vertrete ja nur die graue Wirklichkeit für sie.“ Sie rutschte im Bett ein Stück hoch, stopfte sich das Kopfkissen in den Nacken und strich unter der Bettdecke ihr Nachthemd glatt.

„Hast du sie denn schon mal selbst gefragt?“, erkundigte Ansgar sich und rollte aus der Seitenlage auf den Rücken.

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete sie. „Ich wollte zuerst mit dir reden, bevor ich sie auf Ideen bringe, die dann vielleicht doch nicht umsetzbar sind.“

„Dann frag sie doch mal. Sie könnte sich ja eine Probe ansehen. Ist dann aber das Problem, wie sie das bezahlen will. Musikschule ist ja nicht gerade billig.“

„Hm. Könnte sie nicht einfach in deine AG einsteigen? Bei uns an der Berufsschule?“

 

Ansgar lachte. „Ob das gut geht? Bei den Oberstüflern und so mitten im Jahr? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine von deinen das bringt. Da hatte ich noch nie jemanden aus den Lehrgängen.“ Er klang ungeduldig. Lustlos. Er hatte das Interesse an dem Thema schon wieder verloren, dachte sie. Und er war sauer, weil sie ihn abgewiesen hatte.

Marlene angelte ihr Weinglas vom Nachttisch und überlegte flüchtig das wievielte Glas es an diesem Abend war und dass, unabhängig von der Anzahl, es jedenfalls nicht gereicht hatte ihren inneren Widerstand gegen Ansgars Berührungen aufzuweichen. Als sie ihm antwortete, hörte sie selbst, wie genervt ihre Stimme klang.

„Das muss doch aber möglich sein, dass meine auch mal eine echte Entwicklungschance kriegen, nicht nur immer diese staatliche Förderung mit Zuckerbrot und Peitsche.“

"Jetzt übertreib doch nicht wieder", stöhnte er gereizt. „Sie kriegen doch alle ihre Chance. Bei dir. Bis in unser Bett hinein!“ Er wälzte sich herum und wandte ihr den Rücken zu.

Marlene antwortete nicht. Sie hätte ihn nicht zurückweisen sollen, überlegte sie matt. Manchmal wurde ihr ganz schwindelig von der Kluft, die sich schlagartig zwischen ihnen auftun konnte und sie fragte sich in solchen Momenten, ob nicht sie selbst es war, die alles zerstörte.

Zögernd hob sie die Hand, um ihn sachte an der Schulter zu berühren, um vielleicht eine Art Friedensangebot zu machen. Vielleicht könnte sie sich ja auch einen Ruck geben. Plötzlich registrierte sie das unmerkliche Zucken in seinem Rücken. Weinte er? Das konnte nicht sein. Er weinte nie, wenn er gereizt war und sie kurz davor waren, sich ernsthaft zu streiten.

Marlene hielt die Luft an, lauschte, unsicher darüber was sie jetzt tun sollte. Sie registrierte die

 

Anspannung in der Atmosphäre, die stummen Vibrationen in der Luft. Auch er schien nicht mehr zu

atmen, gab nur hin und wieder kleine erstickte Laute von sich und in dem Moment, als er mit einem unterdrückten Ächzen die gepresste Luft aus seinen Lungen ließ und wie erleichtert in sich zusammensank, wusste sie, dass er nicht geweint hatte.

Mit heißen Wangen drehte sie sich still von ihm weg, knipste die Lampe auf ihrer Bettseite aus und zog die Bettdecke fester um sich. Dann löschte auch er das Licht auf seinem Nachttisch und sie lagen im Dunkeln und schwiegen.

Marlene atmete flach, fragte sich, wie lange sie diese angespannte Stille aushalten konnte, die flatternden Gedanken in ihrem Kopf, oder Ansgars Nähe und die Hitze, die von ihm ausging. Schließlich glitt sie unter ihrer Bettdecke hervor und erhob sich aus dem Bett. Unsicher stand sie eine Sekunde in der Dunkelheit. Ansgar sagte nichts. Dann griff sie sich den Bademantel, der über einem Hocker hing und verließ das Schlafzimmer. Im Flur blieb sie einen Moment lang stehen. Dann ging sie ins Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und startete den Computer.

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