1979: Die sozialliberale Koalition in Bonn dümpelt ihrem Ende entgegen, Karl Carstens wird zum Bundespräsidenten gewählt und begibt sich sogleich auf präsidiale Wanderschaft durch die deutschen Lande, Lichtgestalt Franz Beckenbauer beschließt seine Liberoschaft über Deutschland mit einem Engagement beim ruhmreichen New Yorker Fußball-Club Cosmos, und die DDR täte gut daran, sich auf die letzten zehn Jahre ihrer staatlichen Existenz einzustimmen, wenn ihr denn irgendjemand etwas gesagt hätte … War noch was? Richtig, war noch was: In der fränkischen Provinz erscheint ein schmales Büchlein mit dem Titel »Portugal«, Autor, Verleger und Vertriebsmanager in Personalunion ist Michael Müller. Ausgestattet ist das Buch mit allen Insignien der damaligen Alternativkultur: Pappcover mit überaus bauchiger Titelzeile, innen auf jeder Seite Handstrichzeichnungen, ausladende, mit allerlei Zierrat dekorierte Kapitel-Überschriften, eng gesetzte Texte in Maschinenschrift und mit bisweilen großzügiger Auslegung der damals geltenden Rechtschreibregelung, dazu eine geradezu barock anmutende Angabe der Bezugsquelle: »Erhältlich über Michael Müller, 8553 Ebermannstadt, Mühlenstraße 8. Gegen Voreinsendung eines Schecks über 11,80 DM oder Postscheckkonto«.
Ganz und gar nicht barock gibt sich der Untertitel des Büchleins. Er lautet schlicht »Reise Tips« und gibt so schon recht deutlich die inhaltliche Marschrichtung vor: keine kunst- oder kulturhistorischen Höhenflüge, keine übertriebenen Demutsgesten gegenüber den vermeintlichen oder tatsächlichen Top-Sehenswürdigkeiten des Reiseziels. Anstatt dessen viel »Kleinkram« mit praktischem Nutzwert und der Versuch, einen Blick hinter die Fassade zu werfen, Atmosphärisches einzufangen und – wie es im Vorwort heißt – lohnenswerte Ziele abseits der »üblichen Sehenswürdigkeiten« ins Blickfeld zu rücken. So erfährt der Leser beispielsweise, dass Reparaturen für sein möglicherweise marodes Auto in den portugiesischen Werkstätten »erfreulicherweise sehr billig« sind und man sich im Falle des Falles am besten an die Lissabonner Werkstatt von Silva Roche wendet, der – so der beruhigende Zusatz – »ziemlich gut durchblickt«. Oder dass der Bacalhau, zu Deutsch Klippfisch, zwar Portugals Nationalgericht, sein »Fleisch aber so gut auch wieder nicht« sei. Oder wie man sich am besten von den Folgen der böswilligen Attacken des berüchtigten »Spinnenfisches (Peixa Aranha)« erholt. Oder dass …
Konnte man so etwas verkaufen? Ja, man konnte, erstaunlich gut sogar. Zwar liest sich manches aus heutiger Sicht ein wenig putzig, etwa wenn unter der bemerkenswerten Rubrik »Braunwerden« einigermaßen skurrile Maßnahmen zum Schutz gegen die bedrohliche Strahlkraft der portugiesischen Sonne erörtert werden. Aber wahrscheinlich war es gerade der ganz und gar unprätentiöse Gestus, der den Erfolg des Buches ausmachte. Denn die anvisierte Zielgruppe hatte mit kunstsinniger Attitüde wenig im Sinn – man wollte einfach reisen, möglichst lang, möglichst billig und möglichst unkonventionell. Wenn dazu ein ebenso unkonventionelles Büchlein als Wegbegleiter, Orientierungshilfe und Helfer in der Not zur Verfügung stand, umso besser. Heute, 30 Jahre später, hat sich vieles grundlegend geändert: Bonn heißt längst Berlin, aus »sozialliberal« ist ein politisches Unwort geworden, wandernde Bundespräsidenten sind seit Carstens völlig aus der Mode gekommen, und über Kaiser Beckenbauer und die DDR hüllt man am besten gnädig den Mantel des Schweigens. Gereist wird freilich noch immer, aber auch hier haben sich die Akzente verschoben: Der europareisende Traveller der späten Siebzigerjahre hat seinen verletzungsanfälligen Wagen längst der Schrottpresse überantwortet und auch sein Zeitbudget für Reisen von komfortablen zehn auf magere drei, vier Wochen jährlich heruntergeschraubt. Die Nachfolgegeneration setzt ohnehin nicht mehr so sehr auf ausgedehnte Mehrwochentrips und verteilt die zur Verfügung stehende Urlaubszeit gerne portionsweise übers Jahr. Das beinahe ideologische Ringen der Endsiebziger um Formen des »richtigen Reisens« spielt dabei keine Rolle mehr.
Aber nicht nur das Reisen selbst, auch der Reiseführermarkt hat sich verändert. Es gibt Reiseführer mittlerweile zu bei nahe allen nur denkbaren Reisezielen, und es gibt sie in der marktobligatorischen »Schubladisierung«: als kleine kompakte, die sich in aller Kürze auf das vermeintlich Wesentliche beschränken, als dickleibige Allrounder, die vorgeben, das Reisegebiet in all seinen Facetten darzustellen, als Spezialisten, die sich den besonderen Bedürfnissen von Kultur reisenden, Aktivurlaubern, Familien oder Kindern verschrieben haben, und nicht zuletzt als Individualreiseführer, bei denen die Informationsfülle im reisepraktischen Bereich zum strukturbildenden Prinzip erhoben wurde. In diese Rubrik gehören auch die Bücher des Michael Müller Verlags, der mittlerweile nicht nur über eine veritable Verlagsanschrift und viele eifrige Mitarbeiter zur tätigen Entlastung seines Gründers verfügt, sondern auch über ein beachtliches Sortiment von rund 180 Titeln. Darunter sind schwergewichtige Länder-Kompendien, schmalere Regionalreiseführer, Städteführer und seit Neuestem auch Wanderführer. Immer noch prominentes Mitglied des Ensembles ist der Portugal-Band, mit dem 1979 alles begann. Das Buch liegt inzwischen in der 19. Auflage vor, ist deutlich korpulenter geworden, macht aber immer noch eine prima Figur. Wie man am geschicktesten braun wird, ohne sich den Pelz zu verbrennen, erfährt man leider nicht mehr. Aber ansonsten: Informationsfülle wie eh und je. Reisetipps eben – was denn sonst?