Alexander Fuchs / Entgegenkommen / Leseprobe

Exposé

 

Der deutsche Ingenieur Paul Kelling arbeitet im Auftrag seiner Firma in einem Land im Innern Südamerikas. Die Kupfermine, in der Paul für die Technik verantwortlich ist, hat große wirtschaftliche Bedeutung für die Region und für die Stadt Santa Rosa. Laut einem Gutachten wird in dem Gebiet eine mächtige Erzader vermutet. Aber mit diesen Voraussagen scheint etwas nicht zu stimmen.

In Europa läuft der Krieg, den Deutschland entfesselt hat, auf Hochtouren, Frankreich ist besetzt, die Sowjetunion zu weiten Teilen erobert. Für die Juden in Deutschland hat die nächste Phase der Vernichtung begonnen. Josef Waldstein ist Teilhaber von Pauls Firma "Schmitt & Waldstein" und außerdem sein Schwiegervater. Pauls Frau Esther wartet zu Hause in Dresden auf die Rückkehr ihres Mannes.

Während einer nächtlichen Schießerei hilft Paul dem Eingeborenen Ansit, einem Waldbauern, der mit seiner Familie und seinen Kameraden aus ihrem Dorf vertrieben wurde. Paul und Ansit werden Freunde. Ein alter Ex-General will eine paramilitärische Truppe aufbauen und versucht, Paul dafür auszunutzen.

Durch einen Zufall lernt Paul eine junge Frau kennen, die in Santa Rosa einen Laden mit Waren aller Art betreibt. Lydia ist eine attraktive, selbstbewusste, aber offenbar etwas schwierige Persönlichkeit.

Als Esther Kelling von einer Reise zurückkommt, findet sie in Dresden das Haus ihres Vaters Josef ausgeraubt, er selbst ist verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihm. Schließlich gerät sie in die Fänge des SS Hauptsturmführers Heinrich Francken, der ihr das Leben zur Hölle macht.

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Leseprobe

 

 
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Alexander Fuchs

Entkommen

Paul Kelling und sein Begleiter befanden sich jetzt etwa dreißig Meilen nördlich von
Santa Rosa, als Sergio feststellte, daß er die Karte vergessen hatte. Er sagte "Ich weiß
auch ohne die Karte Bescheid, ich war schon öfter hier oben." "Und wann zuletzt?",
fragte Paul, aber er bekam keine Antwort.

Da lag plötzlich großes Geröll vor ihnen, das von einer Felswand einige Schritte oberhalb
herabgebrochen war. Es war kein Vorbeikommen. Glücklicherweise war die Straße hier
nicht abschüssig, und man konnte wenden. Sie hielten an, der Motor tuckerte, als
würde er sich nach der Anstrengung langsam erholen, Pauls Hände auf dem Lenkrad
vibrierten unmerklich. Er schaute sich um. Auch Sergio inspizierte die Gegend, es
schien, als wollte er es Paul gleichtun, aber er hatte nichts dazu zu sagen.

"Dann sollten wir ein Stück zu Fuß weitergehen", meinte Paul und sah nach links zu der
Anhöhe hinüber. "Wozu?", fragte Sergio, der wenig Lust hatte auszusteigen, "Wenn wir
nicht genau wissen, wo wir sind." "Ich denke, Sie kennen die Gegend?", murmelte Paul
ohne den anderen anzusehen. "Eben darum. Hier ist es nicht. Es müssen noch
mindestens zehn Meilen …" "Sehen Sie das da oben?" "Was?" "In der Lücke im Wald,
was da herausragt, wofür halten Sie das?" Sergio bemühte sich, etwas zu erkennen.
"Ein kahler Baum?" "Das ist ein Stromleitungsmast", sagte Paul, als wäre er gerade von
dort zurückgekehrt. "Ach was, Senor Kelling, vielleicht täuschen Sie sich." "Wir gehen
hin." "Jesus Maria, wie wollen Sie da hoch kommen? Das sind Palatojasträucher, durch
die kommt man nicht mal mit der Machete durch." "Womöglich gibt es einen Weg von
der Straße aus." Sergio lachte abfällig. "Einen Weg! Rufen Sie doch mal, vielleicht
werden Sie abgeholt."

Paul hatte den Motor ausgeschaltet und war ausgestiegen. Sergio konnte nicht anders
als ihm zu folgen. Er fluchte leise, dann langte er nach hinten und holte vom Rücksitz
ein Gewehr. "Sie wollen doch nicht so ohne da hin gehen, Senor?" Paul wandte sich zu
ihm um und öffnete seine helle Jacke, an seinem Gürtel hing ein Lederholster mit einem
Revolver. "Ah so", meinte Sergio.

Paul hatte Recht, es gab einen schmalen Pfad durch die Sträucher. Sie gelangten bis auf
 
 
die Anhöhe, und es war tatsächlich ein Stromleitungsmast, und die zwei parallelen
Kabel gingen zu beiden Seiten hinab. Nach rechts führten sie auf einer Schneise in den
Wald hinein. In der anderen Richtung breitete sich ein kleines Plateau aus, auf dem die
Leitung offenbar endete. Dort sah man verstreut ein paar Hütten aus Stein und Holz
und dazwischen Schuppen oder Ställe in ziemlich desolatem Zustand. Aber keine
Menschenseele; nur die Hühner scharrten in dem trockenen Boden, und zwei Hunde
rauften sich.

Die beiden Männer liefen den Abhang hinab und näherten sich jener Behausung, die
noch den besten Eindruck machte. In der Eingangstür hing eine bunte, gewebte Decke,
und an der Außenwand unter dem Fenster stand ein klobiger Brettertisch mit einigen
Tonkrügen und Blechschüsseln.

Da trat ein Mann heraus. Er mochte um die dreißig sein und hatte einen Hut auf, und
sein Gesicht war schmutzig, aber seine Hände sahen nicht nach Arbeit aus. Er bemerkte
Pauls Blick, steckte sie in die Hosentaschen und wippte auf den Zehen einmal auf und
ab wie jemand, der sich hier heimisch und sehr sicher fühlt.

"Buenos dias, Senores", begrüßte sie der Mann, "haben Sie sich verlaufen?" Sie
erwiderten seinen Gruß. Sergio hatte sein Gewehr hinter dem rechten Bein abgestellt
und hielt es am Lauf fest. "Wir sind aus Santa Rosa", sagte Paul, und der Mann schaute
über ihre Köpfe hinweg in die Richtung, aus der sie gekommen waren, wahrscheinlich
hatte er sie schon da oben gesehen. "Unser Auto steht drüben auf der Straße. Es liegen
Steine da, man kann nicht weiter fahren."

Der Mann nickte und wippte wieder auf den Zehen. Er schwieg. Sergio sagte "Wir sind
eigentlich auf dem Weg zu Freddy Alvaro Garcia, da sind wir doch richtig, oder?" Der
andere zuckte mit den Schultern. "Meinen Sie, dieser Senor Garcia könnte die Steine
auf der Straße beiseite räumen?"

Sergio blickte Paul fragend an, der wies mit der Hand zur Hochebene hinüber. "Dort
oben auf der Serra Geral ist ein Erkundungstrupp unterwegs, Senor Garcia soll
momentan dabei sein." "Was habe ich damit zu tun?" "Ich nehme an, die Leute kommen
öfter hierher." "Wozu?" "Um sich mit Wasser zu versorgen?", fragte Paul, und es klang,
als wollte er sich nichts vormachen lassen.

Der Mann war ihm nicht geheuer. Die Art wie er vor seiner Hütte stand, wie wenn er
sofort den Revolver ziehen würde, wenn die beiden auch nur einen Schritt
 
 
näherkommen; aber er war offenbar unbewaffnet. "Hier tauchen ab und zu Leute auf",
sagte er, "auch solche wie Sie. Warum sollte ich mir ihre Namen merken, die meisten
stellen sich nicht einmal vor." Paul ging nicht darauf ein.

"Und Sie sind allein hier?", fragte Sergio. Der Mann hob seinen Hut vom Kopf, strich
damit übers Haar und setzte ihn wieder auf, dann zog er ihn vorn noch etwas tiefer
herab. "Sieht ganz so aus", sagte er. "Muss ziemlich einsam sein auf Dauer." "Ich kann
auf Gesellschaft verzichten. Ich nehme an, Sie finden selber den Weg zu ihrem Wagen
zurück. Wegen den Steinen auf der Straße kann ich auch nichts tun." "Wann kommt der
nächste Transport vom Rio Vacaria hier vorbei?" "Von Puerto Abente?" "Ja." "Wenn Sie
aus Rosa sind, müssten Sie das besser wissen als ich." "Das schon, aber es ist seit einer
Woche nichts angekommen", meinte Sergio. "Keine Ahnung", erwiderte der Mann, "Sie
sollten vielleicht besser zu Ihrem Wagen zurückgehen, es ist nicht gut, ihn so allein
herumstehen zu lassen." "Unser Fahrer wartet dabei", sagte Paul, und Sergio verzog
keine Miene. "Ein Fahrer?", fragte der Mann überrascht, und Paul wusste, daß er sie
beobachtet hatte. "Ja, wir gehen, Danke für Ihre Auskunft." "Gern geschehen."

Sergio hatte sich umgedreht und war ein paar Schritte gegangen, sein Gewehr hielt er
am Lauf. Wahrscheinlich war es mit dem Abzug an einem Zweig von dem
Bodengestrüpp hängengeblieben, jedenfalls löste sich plötzlich ein Schuss und die
Ladung ging an Sergios rechtem Ohr vorbei in die Luft. Paul erstarrte vor Schreck,
Sergio guckte wie ein gelähmtes Kaninchen. Es fielen vier oder fünf weitere Schüsse,
und eine Kugel prallte mit einem scharfen Kratzen von einem Stein ab.

Die beiden wandten sich um, der Mann stand unverändert vor der Hütte. Sergio rieb
sich sein Ohr. Paul hob die Arme und rief "Entschuldigung, Senor." Das Gesicht des
anderen verfinsterte sich noch mehr: 'Macht endlich, daß ihr fortkommt' war darauf zu
lesen. Sie gingen ein paar Meter rückwärts und verdrückten sich dann zwischen den
Sträuchern.

"Was war das denn?" fragte Paul. "Scheiße, ich glaube, mein Trommelfell ist geplatzt."
"Wer hat da geschossen?" "Wer hat geschossen? Ich kann nichts mehr hören. Diese
Flinte geht so leicht los wie ein Weiberfurz." "Es hat aber jemand geschossen,
wahrscheinlich fühlten sie sich bedroht." "Unsinn. Warum soll den Kerl jemand
bedrohen? Sah der aus, als ob er auf einem Haufen Gold sitzt? Verflucht, summt mir
mein Ohr." "Ich wette zehn zu eins, daß der da nicht hingehört", sagte Paul.

Sie waren am Auto angelangt. Sergio warf das Gewehr auf den Rücksitz. Er zündete sich
 
 
eine Zigarette an. Mit dem Handballen rieb er sachte an seinem Ohr. "Wie kommen Sie
darauf?", fragte er. "Haben Sie seine Hände gesehen? Das waren nicht die Hände eines
Bauern." "Wer weiß, ob er ein Bauer ist. Vielleicht geht er im Wald jagen." "Und seine
Haare waren frisch geschnitten, glauben Sie, da gibt es einen Friseur. Den Dreck hat er
sich wahrscheinlich schnell ins Gesicht geschmiert." "Senor Kelling, was haben Sie
gegen diesen Mann?" "Irgendwas stimmt da nicht." "Na gut", meinte Sergio,
"inzwischen müsste er auch mitgekriegt haben, daß keine Laster mehr hier
vorbeifahren." "Das kann nur zweierlei bedeuten: Entweder er ist erst seit kurzem da."
"Oder er weiß Bescheid", ergänzte Sergio, "aber über was, fragt sich."

Sie stiegen ein und wendeten, Sergio saß am Lenkrad. Nach einer Weile fragte er
"Diesen Freddy Alvaro Garcia, kennen Sie ihn? Ich meine, wissen Sie eigentlich, wie er
aussieht?" "Ja", sagte Paul, "ich bin ihm schon mal begegnet, in Santa Cruz, bei einer
Feier der Jackson Oil Company." Sergio sah ihn von der Seite an, Paul fügte hinzu "Aber
ich kann mich nicht mehr gut an ihn erinnern."

Es fing an zu regnen, es kam ein ordentlicher Guss herab, irgendwo in den Bergen
donnerte es. An der Straßenkreuzung kurz vor Santa Rosa fuhr von rechts ein
Lastwagen heran, der Kisten, Säcke und allerlei Gerät geladen hatte. Wahrscheinlich
weil es nicht abgedeckt war, hatte es der Fahrer eilig, um seine Fuhre ins Trockene zu
bringen.

Paul sah, daß beide Fahrzeuge gleichzeitig an der Kreuzung sein würden, und er sagte
"Lassen Sie den lieber vorbeifahren." "Ich denke nicht dran", entgegnete Sergio, "diese
Bande aus San Hilario, die denken, sie wären die Herren der Landstraße." "Woher
wissen Sie, daß er aus San Hilario kommt", fragte Paul und hielt sich vorn am
Armaturenbrett fest, weil Sergio zu viel Gas gab.
 
Die Straße war schon aufgeweicht, und der Wagen schlitterte; Sergio dachte jetzt auch
nicht mehr daran, daß es sein einziger guter Ford ist. "Das ist einer von den Ramirez
Lastern, die Brüder, die die Spedition haben."

Paul erinnerte sich, daß diese Speditionsgesellschaft damals seine Sachen in Bela Vista
abgeholt hatte, als er von La Plata den Fluss heraufgekommen war. Sie hatten alles
wohlbehalten nach Santa Rosa gebracht, er war zufrieden mit ihnen gewesen, es war
nicht einmal etwas verlorengegangen oder gestohlen worden.

Aber Sergio hatte wohl andere Erfahrungen mit den Ramirez Brüdern gemacht, obwohl
 
 
der Fahrer dieses Lasters garantiert bloß irgendein Angestellter war, der seinen
obersten Chef noch nie persönlich kennengelernt hat. Sergio trat aufs Gaspedal, um als
erster über die Kreuzung zu kommen. "Wenn wir dem hinterher fahren müssen, kriegen
wir den ganzen Dreck ab."

Der Laster gab jedoch keine Anzeichen, sie vorzulassen. Da geriet der Ford auf eine
schlammige Stelle und drehte sich fast um einen Viertelkreis. Er steckte fest, und
Sergio schaffte es rückwärts wieder heraus. Paul war froh, daß er nicht hatte aussteigen
müssen, er wäre sicher mit den Füßen im Schlamm versunken. Sergio fluchte, weil der
Laster einen Vorsprung gewonnen hatte. An der Kreuzung schleuderte er um die Kurve,
und jetzt kam es Paul auch so vor, als wollte er ihnen ein Schnippchen schlagen.

Er hatte kaum abgebremst, der nasse Dreck flog zur Seite. Aber er war mit den linken
Rädern durch eine Wasserpfütze gefahren, die offenbar viel tiefer war, als es aussah. Er
neigte sich bedenklich zur Seite, und auf der Ladefläche kam etwas ins Rutschen, und
eine von den Kisten hüpfte über die Lattenplanke drüber und fiel auf die Straße, der
Fahrer hatte es nicht bemerkt.

Sie hielten an. Der Deckel hatte sich gelöst, und es waren ein paar Gegenstände
herausgepurzelt. Es waren Garnknäuel und Rollen mit Zwirn und allerlei Schachteln, von
denen Paul eine auf machte und darin kleine metallene Teile fand, offenbar Zubehör für
Nähmaschinen. "Eine Kiste mit Schnaps wäre mir lieber", brummte Sergio. "Der wäre
bestimmt zu Bruch gegangen", lachte Paul, dann sagte er "Was machen wir jetzt
damit?" "Schmeißen es in den Graben." "Wir nehmen's mit, vielleicht kann ich
herausfinden, wem es gehört." "Von mir aus. Wenn nicht, können Sie es ja für Ihre
Pumpen verwenden, Senor Kelling."
 
 
* * * * *

Bernarda hatte in Erfahrung bringen können, wem die Kiste gehört. Am Marktplatz in La
Ronda, dem zentralen Viertel der Stadt, eröffnete ein neues Geschäft, ein Laden, der
alle möglichen Waren anbot, die hier benötigt wurden.

Er hatte ein Schaufenster, das innen mit Papier des "Mercurio", der örtlichen
Tageszeitung, beklebt war; man war noch mit dem Einrichten beschäftigt, und Bernarda
hatte sich nicht selbst erkundigt, sondern war von einem Gehilfen, der bei ihr erschien,
als sie ihr Brot verkaufte, informiert worden.
 
 
Als er erwähnte, daß die Spedition Ramirez den Transport abgewickelt hatte, erfuhr
Bernarda auch, daß diese Kiste verloren gegangen sei, und der Gehilfe, ein hübscher
lockenköpfiger Junge mit Namen Nemesio, war hocherfreut zu hören, wo sie
abgeblieben ist. Sie sagte es Paul, und der meinte, dann solle sie die Kiste morgen dort
abgeben. Dann fiel ihm ein, daß er selber in La Ronda zu tun hat und das erledigen
kann.

Er fand den Laden gleich; über dem Schaufenster prangte in gelben Lettern der
Namenszug "L. Kirkpatrick", den der Besitzer anscheinend als erstes angebracht hatte.
Ansonsten ging der Verkauf noch provisorisch vonstatten, und als Paul eintrat, roch er
Farbe, Terpentin und noch etwas, das wohl von dem Linoleum ausging.

Es war kein Mensch zu sehen. Er stellte die Kiste auf den Ladentisch. Er hatte den
Deckel wieder festgenagelt, aber einige von den Garnknäuel waren verdreckt. Auf dem
Ladentisch stand eine große Registrierkasse der Firma Richter, und es lag da ein
Klemmbrett mit Blättern, auf denen er beim flüchtigen Hinschauen Inventurlisten
erkannte, die gerade abgearbeitet werden, ein Tintenstift lag daneben.

Er rief nach Mister Kirkpatrick, und dann kam der Gehilfe, den Bernarda ihm nicht
beschrieben hatte, so daß Paul ihn fragte "Wie heißt du?" "Nemesio. Was kann ich für
Sie tun, Senor?" "Ich möchte den Besitzer, Mister Kirkpatrick sprechen, es geht um
diese Kiste." "Ah, Senor Kelling, Sie sind es, oh ja, unser Nähzeug, warten Sie einen
Moment, ich sage Lydia Bescheid." "Wo ist …?", wollte Paul wissen, aber der Junge war
nach hinten gelaufen, und dann erschien eine Frau im blauen Baumwollkleid, mit einer
Schürze und riesigen Lederhandschuhen an den Händen, wie sie die Holzfäller benutzen.
Sie hatte das blonde, leicht rötliche Haar zusammengebunden, und es war wohl von
Natur aus ein bisschen widerspenstig, denn ein paar von den welligen Strähnen hatten
es geschafft, aus dem Haarband herauszukommen und hingen seitlich herunter.

Sie streifte die Handschuhe ab, warf sie auf den Ladentisch und rief "Ich danke Ihnen
sehr, mein Herr." Sie langte nach unten und holte ein Stemmeisen hervor, setzte es an,
und die Nägel, die den Deckel hielten, gingen quietschend aus dem Holz heraus,
niemand hätte die Kiste geschickter öffnen können. Dann bemerkte Paul ihren Blick und
sagte "Sie war aufgegangen bei dem Sturz."

Sie sammelte mit beiden Händen die schmutzigen Knäuel heraus, als würde sie
vertrocknete Früchte auslesen. "Halb so schlimm. Hauptsache, die Ersatzteile sind noch
dabei." Sie öffnete eine der Schachteln und Paul sah, wie ihre Fingerspitzen über die
 
 
kleinen silberglänzenden Metallteile hinwegfuhren wie über Schmuckstücke. "Sind die
für Nähmaschinen?", fragte Paul. "Ja." Sie kramte ein wenig in der Kiste herum, und
Paul schien es, als würde sie nachprüfen, ob nichts fehlt. Es entstand eine Pause und
Paul dachte daran zu gehen.

Die Frau blätterte in den Seiten auf dem Klemmbrett und suchte wohl die
entsprechende Eintragung. Paul sagte "Ich muss gehen, richten Sie Mister Kirkpatrick
einen Gruß von mir aus, gewiss werde ich künftig wieder mal herkommen." Sie schaute
beinahe überrascht von ihrer Liste auf. "Ja, gut", sagte sie und strich eine Haarsträhne
hinters Ohr, "Mister Kirkpatrick bin ich, ich meine, Lydia Kirkpatrick, das ist mein
Laden." "Ach so", Paul lachte, "L. Kirkpatrick, na klar, warum nicht." Dann machte er
automatisch eine Verbeugung. "Miss Kirkpatrick, es war mir ein Vergnügen."

Er wandte sich zur Tür. Sie rief "Sagen Sie mir noch Ihren Namen?" "Paul Kelling." "Sie
sind Deutscher?" Er wollte wieder einen Schritt zum Ladentisch hin gehen, blieb dann
aber an der Tür stehen. "Ja." "Aus Hamburg oder aus Berlin?" fragte sie, als wären das
die beiden einzigen Städte in Deutschland. "Weder noch. Von da, wo auch Ihre Kasse
herkommt", sagte Paul und wies mit der Hand darauf, "aus Dresden." Lydia warf einen
Blick auf die Kasse. "Mein Gott, habe mich noch nie gefragt, woher das Ding stammt."
"Ich weiß es auch nur, weil ich mit der Firma Richter mal zu tun hatte." "Ach so."

"Und sie kommen aus Irland, wenn ich mich nicht täusche." "Woran sieht man das nun
wieder?" Ihre Miene hatte sich verändert, den Stift hatte sie beiseite gelegt, der
geschäftige Ausdruck in ihren Augen war einer Munterkeit gewichen. Paul wollte sagen,
daß ihr Name und ihre Haarfarbe ihn darauf gebracht haben, doch sie bestätigte gleich
seine Annahme. "Sie haben Recht, ich bin aus Galway, irische Westküste, falls Sie
schon mal davon gehört haben." "Ich müsste schwindeln." "Dafür lohnt es sich nicht."
"Aber Sie sind nicht jetzt erst hergekommen?" "Nein. Ich hatte vorher eine kleine
Pulperia in der Oficina Filomela, mit jemandem zusammen." "In einem der
Salpetergebiete?" "Ja. Die Oficina Filomela ist eines der größten Salpeterfelder, die zur
Zeit abgebaut werden."

"Das war sicher ein gutes Geschäft für Sie, dort", sagte Paul und merkte gleich, daß dies
keine so gute Feststellung war, denn warum sollte sie dann von dort weggegangen sein.
Lydia sagte "Ja, unser Geschäft hat floriert, aber …" Vor dem Laden hupte ein
Lastwagen. Lydia kam zur Tür und schaute hinaus. Im Vorbeigehen erhaschte Paul ihren
Parfumduft. "Nemesio!" rief sie nach hinten, und zu Paul gewandt meinte sie "Das ist
die Öllieferung für mich." "Öl?", fragte Paul und schaute auf den Laster. "Speiseöl, kein
 
 
Maschinenöl. Übrigens auch italienisches Olivenöl, das wäre vielleicht etwas für
Bernarda, Ihre Haushälterin."

Sie ging hinaus und begrüßte den Fahrer. Sie kümmerte sich nicht mehr um Paul. Der
Junge kam und half beim Abladen. Paul verabschiedete sich, sie winkte ihm kurz zu.

Drei Tage später überraschte ihn ein junges Mädchen, das offenbar vor dem Haus
gewartet hatte. Sie sagte, sie habe eine Nachricht von Ansit für Senor Paul: Ansit sei zu
seinen Leuten zurückgegangen, er bedanke sich bei dem Senor und bei Bernarda für
ihre Hilfe und er werde sich so bald wie möglich bei ihm melden wegen der Sache "Sie
wüssten schon, um was es geht", sagte sie.

Da schlüpfte durch die Hoftür der Hund heraus und beschnupperte ihre Wildlederstiefel.
Sie streichelte ihn, und er wedelte mit dem Schwanz. Paul fragte, wie sie heißt. "Juana",
sagte sie und drehte sich um, denn jemand rief "Senor Kelling".

Es war Nemesio, der Junge aus Miss Kirkpatricks Laden. Er war froh, daß er Paul noch
erwischt hatte. Er brachte eine Tasche, die aus Bastfasern gefertigt war, mit allerlei
Waren drin, hauptsächlich welche für den Haushalt. "Miss Kirkpatrick schickt Ihnen
das."

Juana hatte den Jungen aufmerksam angesehen, und der Hund buhlte vergebens um
weitere Zuwendung. Sie wechselten ein paar Blicke. Paul nahm die Tasche dankend
entgegen. Auch Bernarda war an der Hoftür erschienen, und er gab ihr die Sachen.

Paul musste los. Er bat Juana, Ansit auszurichten, daß er jederzeit für ihn da ist, dann
machte er das Tor ganz auf, um mit dem Wagen herauszufahren. Bernarda sagte zu den
Kindern, sie sollten ins Haus kommen, sie habe frisches Gebäck und heißen Kakao, und
Juana folgte der Einladung, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß Nemesio es auch
tat.
* * * * *

Eines Nachmittags saß Paul in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und war damit
beschäftigt, den Transport der erwarteten Pumpe von La Plata nach Santa Rosa zu
organisieren. Es war ein heißer, sonniger Tag, aber im Zimmer war es angenehm
temperiert dank eines Ventilators an der Decke. Das große Fenster, das zum Garten hin
ging, war mit einer Markise beschattet.
 
 
 
Draußen waren Nemesio und Juana beim Spielen, und sie machten gar keinen Lärm, so
daß Paul ungestört arbeiten konnte. Die beiden kamen übrigens alle paar Tage in Pauls
Haus, anfangs, weil Bernarda sie immer so zuvorkommend behandelte und weil sie auch
ziemlich freigebig war. (Bernarda liebte alle Kinder; sie hatte leider selbst keine.) Dann
hatten sie den Garten für sich entdeckt, es gab da ein paar Stellen, wo man sich richtig
gut verstecken konnte, wenn einem danach zumute war.

Paul war das auch aufgefallen, und zwar zuerst, als er unbewusst von seiner Arbeit
aufsah, weil er die beiden nicht mehr hörte. Er hatte sich irgendwie schon an ihre
Stimmen gewöhnt, vor allem an Nemesios keckes Lachen und an die Art, wie Juana ihn
dauernd etwas fragte, ihre Stimme ging dabei immer so lustig in die Höhe.

Paul war aufgestanden und ans Fenster gegangen, aber er konnte sie nirgends
erblicken. Nach einer Weile tauchten sie wieder auf. Paul dachte, er sollte nur ja nicht
so neugierig sein, was sie da treiben, zumal sie so herrlich unbefangen waren und nicht
damit rechneten, daß er sie beobachten würde.

Also hielt er sich zurück, und erst, als sie gegen Abend gegangen waren, warf er
manchmal einen Blick in den Garten, und zuletzt fand er da einen Tisch, den hatten sie
mit einem Brett und zwei Holzkisten gebaut, und darauf standen Schüsselchen und
Schalen aus Ton, und es lagen auch unförmige Tonklumpen daneben. In manche
Schalen waren Sachen aus der Küche gefüllt: Brotkrumen und andere Teigstücke, in
einer waren Haselnüsse, in einer weiteren eine Handvoll Rosinen.

Als die beiden wieder da waren, ging Paul zu ihnen in den Garten. Juana fragte, ob er
was essen will, er lehnte dankend ab. "Wieso nicht", fragte sie, "gefällt es Ihnen nicht?"
"Doch. Besonders das Geschirr gefällt mir." "Das habe ich selber gemacht", sagte Juana.
"Wie, selber?" Nemesio sagte "Da hinten ist eine Grube, da gibt's prima Lehm. Juana
kann richtig töpfern." "Ich staune", sagte Paul und nahm eine der Schalen in die Hand.
"Na, die ist nicht grade die beste", meinte Juana, "kaufen Sie lieber die hier." Sie
schüttete die Rosinen aus und hielt ihm die Schale hin. "Fünfzig Centavos, weil Sie's
sind." "Ähm." "Bernarda hat auch schon welche gekauft, für die Küche", sagte Nemesio.

"Wo hast du das gelernt, Juana?" "Nirgends. Hab' manchmal meiner Großmutter
geholfen." "Ich mache mehr Tiere und so was." "Wo?" "Na da stehen sie." Er deutete auf
die Tonklumpen. Juana unterdrückte ein Grinsen. "Die sehen ganz schön scheiße aus,
oder?", meinte sie.
 
 
 
Paul hatte die Schale hingestellt und wendete einen der Tonklumpen in den Händen.
"Was für ein Tier ist das noch gleich?" "Ein Affe natürlich, oder haben Sie noch nie einen
gesehen?" Juana sagte "Ich hätte es eher für eine Schildkröte mit Stiel gehalten, aber
man darf ihm nicht den Mut nehmen." Sie schaute Nemesio aus ihren schönen dunklen
Äuglein an. "Ich schleppe den Ton ran", sagte er.

Sie hatten den Ton in eine Blechschüssel gelegt und mit einem feuchten Tuch
abgedeckt. "Wo ist die Grube?" "Da drüben, ungefähr dreißig Schritt." "Er macht das mit
'nem Spaten, und dann schleppt er das Zeug in dem Tuch her, und hier halten wir's
feucht."

"Habt ihr schon mal dran gedacht, es zu brennen?" "Nö. Wozu?" fragte Juana zurück.
"Den Leuten gefällt's auch so." Nemesio fand die Idee gar nicht so schlecht. "Wie denn?"
Paul sagte "Es gibt eine Technik, da kann man Töpferware in einem Erdhügel brennen.
Es ist ein bisschen aufwändig, aber es sieht auch gut aus." "Könnte man das gleich hier
machen?" "Ach lass doch den Quatsch mit dem Brennen", sagte Juana, und Paul
bemerkte, daß sie ganz schön jähzornig werden konnte. "Meine Sachen bleiben so.
Kannst ja deine Monster brennen, die werden alle dabei zerplatzen."

Nemesio machte eine Kopfbewegung zu ihr hin und sagte zu Paul "Sie hat richtig
Ahnung davon, merken Sie." Juana machte sich mit angestrengter Miene an einem
Gefäß zu schaffen. Es war schön, ihr zuzuschauen. Dann sagte sie "Na gut, einen Peso
und Sie können sich noch was aussuchen."

Paul schaffte die Sachen nach drinnen, und eine Schale stellte er auf seinen
Schreibtisch. Es war bläulicher, mittelfeiner Ton mit etlichen verschiedenartigen
Körnchen, und er bildete einen schönen Kontrast zu dem dunkelbraunen, polierten Holz
des Tisches.  

Nemesio rief ihm von draußen zu. Paul öffnete das Fenster. "Miss Kirkpatrick hat
Probleme mit der elektrischen Leitung hinten im Lagerraum. Wenn Sie so freundlich
wären, mal bei ihr vorbeischauen." Paul verstand nicht gleich, was gemeint war. Juana
hatte genau verfolgt, wie Nemesio ihm das gesagt hatte, und Paul dachte dann, der
Junge hat sich so gewählt ausgedrückt. Hatte er nicht morgen etwas zu tun in dem
Viertel? Nein, hatte er nicht. Oder doch.

"Hallo Paul, was führt Sie her?" Sie hatte eine Latzhose aus grober Baumwolle an, wie
sie die Burschen von der Benzinstation gegenüber tragen, aber darunter trug sie eine
 
 
blütenweiße Bluse. Die Haare hatte sie diesmal einfach hinten zusammengebunden. Ihr
Gesicht hatte eine rosige Farbe. Es waren ein paar Kunden im Laden, und sie redete ihn
über die Schulter einer alten Frau hinweg an, als er eintrat.

Er wartete, bis sie alle bedient hatte, und es kam auch gerade keiner weiter. "Sie haben
mir meinen Gehilfen abgezogen", sagte Lydia. "Wer?" "Na Sie, Paul. Wie ich höre,
drückt sich Nemesio bloß noch bei Ihnen herum." "Ach, er vernachlässigt seine
Pflichten?", fragte Paul und zog die Augenbrauen zusammen. Lydia schnaubte lachend.
"Na, so würde ich es nun auch wieder nicht nennen. Sie waren wohl mal Lehrer
gewesen?" "Ich? Niemals. Wieso?" "Jetzt eben haben Sie so ausgesehen." "Schlimm?"
"Ach was. Aber ich fürchte, man hätte Sie als Lehrer nicht ernst genommen." "Ja,
manchmal denke ich, man nimmt mich auch so nicht ernst." "Oh, bitte, habe ich was
Falsches gesagt?" "Nein, nein, das war überhaupt nicht auf Sie bezogen, Miss
Kirkpatrick." "Wie wär's mit Lydia." "Ja, gut. Lydia." Er entdeckte die Sommersprossen
auf ihrem Gesicht.

"Und was kann ich für Sie tun?" "Ähm, Nemesio hat gesagt, mit Ihrer Elektrik ist was
nicht in Ordnung." "Mit meiner Elektrik?" "Ja, das Licht im Lagerraum, er hat doch nicht
etwa …" "Ach so, ja, das Licht. Stimmt, es macht irgendwie, was es will. Deswegen sind
Sie extra hergekommen?" "Ich dachte, nein, ich hatte ohnehin hier was zu erledigen.
Außerdem, mit einer defekten Stromleitung ist nicht zu spaßen, vor allem nicht mit
solchen hierzulande." "Oh ja, das weiß ich. Ich habe schon mal ganz schön eine
gewischt bekommen."

Jemand kam in den Laden. "Also, Sie können sich das gern anschauen", sagte sie zu
Paul, "hinten im Lager." Er ging nach hinten, sie rief ihm hinterher: "Aber passen Sie
auf, es ist furchtbar dunkel."
 
Er suchte sich den Weg zwischen den Regalen hindurch. Er sah nach den Leitungen, sie
waren ziemlich marode. Es gab einen Verteilerkasten, wo auch ein paar Sicherungen
waren, aber die meisten waren durchgebrannt oder irgendwie provisorisch eingesetzt.

Er hatte einen kleinen Koffer mit allerlei Werkzeug dabei und er prüfte die Spannung.
Irgendwo war auch eine Leitung unterbrochen, und an einem Lichtanschluss an der
Wand hingen die Kabel offen heraus. Er probierte einen Schalter, er war tot.

Dann sah er, daß hinter einer Tür ein paar Stufen nach unten in den Keller führten. Er
leuchtete mit einer Taschenlampe und ging hinunter. Der Keller war geräumig und
 
 
trocken, und es standen da allerhand Kisten und es lagen alle möglichen Waren herum.
Durch eine Fensterluke kam trübes Licht, und Paul sah, daß man eine große Klappe
nach draußen öffnen konnte, das musste zur rechten Hausseite hin sein.

"Kommen Sie zurecht?", fragte Lydia, und Paul erschrak. "Sie nutzen diesen Raum?"
"Ja. Aber hier könnte man wirklich etwas mehr Licht vertragen. Schauen Sie mal, da ist
sogar ein Aufzug." Paul untersuchte ihn, er führte nach oben in das Lager, er hatte
bestimmt einen Kubikmeter Fassung. Paul betätigte die Steuerung, aber der Aufzug
bewegte sich nicht.

"Kriegen Sie das wieder hin?", fragte Lydia, als wäre für morgen eine große Vorführung
geplant. "Man müsste an den Seilzug herankommen, irgendwo muss man doch in den
Schacht hinein." "Ja, hier vielleicht." Ein Stück daneben war eine schmale Tür wie zu
einem Besenschrank. Sie klemmte, und Paul kriegte sie erst mit einem Eisen auf. Dann
krabbelte er hinein wie in eine Höhle. "Sie werden sich schmutzig machen", sagte Lydia,
"ziehen Sie lieber was Altes an." "Es geht schon." "Nicht daß Sie das dann mit auf die
Rechnung setzen." "Darüber reden wir später." Sie hatte auch eine Lampe in der Hand
und leuchtete ihm nach. "Du meine Güte, das ist ja eine richtige Geheimkammer", ließ
er sich hören. "Was denken Sie, wo ich meine Leichen hinstecke."

Dann kam er wieder heraus. "Und? Wie sieht's aus?" "An dem Seilzug sind ein paar
Teile eingerostet, und ich schätze, hier an dem Ding sind die Kontakte verdreckt." Er
hielt einen Kasten mit etlichen Anschlüssen in der Hand. "Wenn man das in Ordnung
bringt, müsste er eigentlich wieder funktionieren." "Das wäre klasse", freute sie sich.
"Wissen Sie was, Paul, wenn er wieder geht, schicken wir Sie als erstes da drin nach
oben. Und da bekommen Sie dann Ihre Belohnung. Wäre das nicht lustig?" "Ja, sehr."

Er klopfte sich den Staub von den Knien. Als sie wieder im Hellen waren, sagte Lydia
"Warten Sie, hier sind Sie auch noch staubig", und sie säuberte ihn mit der Hand am
Ärmel und am Rücken. Nemesio war erschienen und hatte solange im Laden bedient.
Als er das sah, holte er einen der Teppichklopfer von der Wand und sagte "Damit geht's
besser." Lydia lachte.

Dann kam sie mit einer Flasche an und fragte "Trinken Sie eigentlich?" Paul hatte bei
den Rollen mit den Kabeln etwas für die Leitungen herausgesucht. "Selten", sagte er.
"Das hier ist Walnuss Likörwein, was ganz Feines. Wollen Sie ihn probieren?" "Gern.
Aber nicht allein." "Na gut, überredet", sagte sie und schenkte zwei Gläschen voll. "Ich
dachte, Sie trinken nur Whisky", meinte er. "Ja, aber der ist alle. Also dann, Salud."
 
 
"Salud. Hm, der schmeckt wirklich köstlich, irgendwie nussig." "Ja."

Sie schaute nach vorn, wo sich Nemesio gerade mit einem alten Mann herumstritt, am
Ende waren sie sich beide einig. "Wie finden Sie eigentlich meine Hose?", fragte Lydia
und drehte sich einmal um sich selbst, dabei hielt sie das Glas zwischen den Fingern.
"Ähm, ja, steht Ihnen gut." "Wenn ich ein Kerl wäre, würde ich nur solche Hosen
tragen." "Warum nicht. Ich meine, Sie könnten auch so mühelos welche tragen." Sie
lachte, und Paul dachte, ihr wäre der Likörwein schon zu Kopf gestiegen. "Mal sehen.
Vielleicht mach' ich's wirklich. Nie mehr Röcke tragen." "Ja", bekräftigte er, "setzen Sie's
endlich in die Tat um."

Da klingelte es. "Ach, ein Telephon haben Sie auch hier?", fragte Paul erstaunt. "Na ja,
zwei wären wahrscheinlich schon zuviel", gab sie zurück und merkte offenbar nicht, wie
frech sie war. Nemesio hatte abgenommen, dann hielt er den Hörer zu ihr hin: "Senor
Peterson, er will unbedingt dich sprechen." Lydia ging hin.

Paul trank das Glas aus und stellte es aufs Regal. Nemesio nahm die Gläser und die
Flasche und sagte "Ich stell' das weg." "Qué tal está usted, Senor Peterson?", fragte
Lydia den Anrufer. Sie schrieb, während sie redete, etwas auf einen Zettel, zuletzt sagte
sie "Si, Senor Peterson, muchas gracias, que se mejore." Dann rief sie Nemesio her.
"Hier bring' das zu Senor Peterson, aber er soll gleich bezahlen, hörst du, lass dich nicht
abwimmeln."

Sie löste die Schleife im Haar und band es neu zusammen. "Tja, Paul, dann hätten wir
das erledigt. Tut mir Leid, ich habe heute wirklich alle Hände voll zu tun." Paul hatte ein
Gefühl, wie wenn man beim Schießen daneben trifft. "Dann kann ich Sie ja auch mal
anrufen", sagte er und deutete auf das Telephon unterm Ladentisch. "Ja natürlich",
erwiderte sie und rief Nemesio zu: "Nimm die andere Seife, die im grünen Papier."  

Dann fragte sie Paul: "Aber warum?" Sie sah ihn an, als wäre er ein Handelsvertreter,
dessen Artikel sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen kann. "Ich schicke einen
Kollegen her, er kennt sich besser aus mit elektrischen Anlagen, ist Ihnen das recht?"
"Das wäre toll, ja." "Adios." "Adios, Paul. Und vielleicht fällt Ihnen ja noch was ein."
"Wofür?" Das Telephon klingelte wieder, sie zeigte mit dem linken kleinen Finger drauf,
bevor sie abnahm: "Dafür".

Als Paul zu Hause war, verspürte er Lust, etwas zu trinken. War das eine Folge von
Lydias Walnusslikör? Er hatte seit vielen Tagen keinen Alkohol mehr getrunken. Er
 
 
suchte die Flasche weißen Rum, die ihm der General geschickt hatte, mit nochmaligem
Dank für seine Gefälligkeit wegen der Post aus Deutschland. Die war jedoch bisher nicht
eingetroffen.

Er öffnete die Flasche und schenkte sich ein Glas halb voll, dann goss er noch etwas
dazu und nahm einen großen Schluck. Er musste sich schütteln, 'aber das Zeug tut
verdammt gut', dachte er. Auch Esthers Brief war noch nicht angekommen. Das klang
so, als würde er unterwegs irgendwo liegengeblieben sein. Aber was, wenn sie ihn noch
gar nicht abgeschickt hatte?

Paul machte das, was er immer tat, wenn er sehnsüchtig auf Nachricht von Esther
wartete: er holte einen Stapel mit ihren Briefen aus dem Bücherschrank und dann las er
beinahe wahllos darin herum.

Sie schrieb, daß der alte Segebrecht geheiratet hat, zum vierten Mal. Wilhelm
Segebrecht wohnte in Kleinzschachwitz und der Garten beim Haus reichte bis an den
Fußweg, der am Ufer der Elbe entlang ging, es war nur noch ein breiter Streifen Wiese
dazwischen.

In dem Garten lag ein Kahn, Esther hatte Paul darauf aufmerksam gemacht, als sie dort
spazierengingen. Sie hatten immer eine Zeit lang ihre Lieblingswege, wo sie, am besten
in der warmen Jahreszeit abends, wenn es lange hell war, in aller Ruhe eine Runde
drehten und dann meistens an einer Kneipe vorbeikamen, wo sie draußen ein Bier oder
ein Glas Wein tranken.

Sie wohnten in Laubegast, in der Nähe einer Endhaltestelle der Straßenbahn, und von
dort konnte man praktisch in alle Richtungen laufen (nach vorn über den Fluss gab es
weiter stadtwärts eine kleine Fähre).  

Esther kam auf die Idee, mit dem Kahn auf der Elbe zu fahren, und zwar zu der kleinen
Insel, die auf der Höhe von Schloss Pillnitz lag. Sie sagte, davon habe sie schon als Kind
geträumt.

Und im Pillnitzer Park, zwischen mannshohen, akkurat geschnittenen Hecken stand eine
lange Gondel des alten sächsischen Königs, weiß und golden gestrichen, mit einer
Galionsfigur vorne dran, die in ein goldenes Horn pustete, auf der hatten sich die
Fräuleins und feinen Damen vor zweihundert Jahren vergnügt, und die hatte wohl das
kleine Mädchen zum Phantasieren angeregt.  
 

 

Esther ging schnurstracks an die Haustür und klingelte, und Wilhelm Segebrecht
öffnete, und Esther fragte ihn, ob man mit dem Kahn mal auf der Elbe fahren könnte.
Wilhelm Segebrecht ging schon am Stock, und er sagte, früher sei er natürlich selber
den Fluss rauf und runter gerudert, und auf der Insel sei er auch gewesen, aber da ist
es gar nicht so schön wie man denkt, denn es ist alles verwildert und der Boden ist
überwuchert. Aber wenn sie darauf besteht, freilich, er habe nichts dagegen, nur
müssten sie es allein bewerkstelligen, den Kahn aufs Wasser zu bringen.

Paul kannte eine Menge Leute in allen möglichen Werkstätten, und mit zwei Freunden
legten sie vom Garten (wo der Zaun ein Tor hatte) bis zum Ufer eine Bahn aus
Holzbohlen, und auf Walzen konnte das Boot hinabgeschoben werden. Am Ufer war
sogar so etwas wie eine Anlegestelle aus früherer Zeit, da machten sie es fest.

Das war Ende Mai. Und dann veranstalteten sie eine richtige Gondelpartie mit feinen
Häppchen zum Essen und mit Sekt vom Weingut Wackerbarth, und Esther hatte wie an
einer Wäscheleine Lampions auf dem Kahn aufgehängt, und am Ufer standen Wilhelm
Segebrecht und seine dritte Frau Arm in Arm und schauten dem Treiben der jungen
Leute vergnügt zu.

Seine Frau hieß Anneliese, und sie malten den Namen in Großbuchstaben auf den Kahn.
Wilhelm lachte und meinte, der habe noch nie so einen hübschen Namen gehabt, aber
wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, daß die Stelle schon mal überpinselt
worden war.

Sie fuhren flussabwärts bis zur Brücke und hinauf bis fast nach Heidenau. Irgendwo am
Ufer machten sie Halt und suchten Holz für ein Feuerchen und saßen dann da, und es
waren immer gelungene Ausflüge. Auf der Insel waren sie auch, und Esther fand, es
wäre wie im Urwald, die Bäume hatten sogar dichte Schlingpflanzen um die Stämme
gewunden. Was Paul dann hier an echten Urwäldern gesehen hatte, das ließ dieses
Häufchen bewachsenen Schwemmsand freilich im Nachhinein kindisch erscheinen.

Eines Tages bevölkerten Dutzende von Nutrias das Ufer der Insel. Sie hatten rote
Schneidezähne und ein glattes, dichtes Fell und putzige Pfoten. Man erzählte, sie wären
aus einer Nutriafarm ausgebrochen, und sie vermehrten sich rasant. Am Inselufer
waren sie sicher, und sie durchlöcherten den Boden mit unzähligen Bauhöhlen. Sie
waren weder scheu noch zutraulich, aber es waren bald zu viele, und es war keine
Freude mehr, zur Insel hinüberzurudern.  
 

 

* * * * *

Als Paul am nächsten Morgen erwachte, lag er auf dem Sofa. Bernarda hatte ihm die
Decke übergelegt, die Rumflasche war halb leer, Esthers Briefe lagen verstreut. Zum
ersten Mal musste er sich sehr überwinden, zur Arbeit zu gehen. Er dachte sogar daran
daheim zu bleiben, aber sein gutes Gewissen gewann die Oberhand. Er ließ die Briefe so
liegen, und am Abend las er weiter, als hätte sich zwischendurch nichts ereignet.

Esther erinnerte sich immer wieder an ihren Aufenthalt in einem kleinen Nest, auch an
der Elbe gelegen, aber hinter Meißen, das hieß Zadel. Paul fiel auf, wie oft Esther dieses
Zadel in ihren Briefen erwähnt, er suchte jetzt regelrecht danach und überflog eine
ganze Reihe Blätter, ob er den Ort genannt fände. In dem Jahr hatte Paul in Meißen zu
tun gehabt, und er hatte vorgeschlagen, daß sie beide eine Woche dort wohnen, keine
richtigen Ferien, aber doch eine Abwechslung und Erholung wovon auch immer.

Esther fand das großartig. Sie sah sich in einer kleinen niedlichen Pension mit Blick auf
die Weinberge, wo sie jeden Tag ausschlafen konnten bis zum Mittagessen, das sie in
irgendeinem gemütlichen Landgasthof einnehmen würden. Paul traute seinen Ohren
nicht. Wenn jemand niemals länger als bis um sieben im Bett lag, so war es Esther, und
wirklich trieb sie Paul jeden Morgen aus den Federn und sprühte vor
Unternehmungslust.

Sie hüpfte halbnackt im Zimmer umher, und Paul sah sie vom Bett aus an. Sie war von
zierlicher Gestalt und hatte überall dort entzückende Rundungen, wo man sie sich bei
einer Frau wünschte. Sie hatte Pobacken nach Apfelform, wie es Paul besonders gefiel.
Sie hatte schlanke Waden und leuchtende Fersen. Ihre Brüste waren rund und fest, sie
hingen nicht herab, sondern streckten sich hervor, ohne jedoch gewaltig zu sein.  

Sie trug mittellanges Haar, das bis eben zum Nacken reichte, und Paul mochte es, wenn
sie eine Seite hinters Ohr legte. Und sie mochte es, wenn er ihr Ohr küsste und mit der
Zunge darin herumschnupperte, denn das kitzelte so drollig. Wenn er Glück hatte und
für seine lüsternen Blicke belohnt wurde, konnte er sie überreden, noch einmal zu ihm
ins Bett zu kommen.

Oder er umarmte sie, wenn sie am Waschbecken vor dem Spiegel stand, was sie
scheinbar überhaupt nicht leiden konnte, weil sie gerade dabei war sich zu kämmen
oder zu schminken. Er küsste sie auf die Schulter, streichelte ihren Hals, ihre Brüste,
 
 
ihren Bauch und Schoß, und schließlich drehte sie sich zu ihm und sie umarmten und
liebkosten sich, heimlich und ungestüm wie zwei junge Ausreißer. Hatte er nicht damals
schon das Gefühl, mit Esther an einem Ort zu sein, wo niemand sie finden konnte?

Im Gasthaus "Zur Linde" lernten sie zufällig ein Ehepaar kennen, er war Architekt, sie
Kunstmalerin, beide etwa in ihrem Alter. Sie kamen ins Gespräch, und die beiden luden
sie ein, sie zu besuchen.

Da stellte sich heraus, daß sie in einer alten Windmühle wohnten, die auf einem Hügel
nahe am Fluss stand und die der Architekt ausgebaut und zu einem richtigen Wohnhaus
umfunktioniert hatte. Natürlich fand Esthers Begeisterung keine Grenzen mehr. Sie ließ
sich von dem Hausherrn alles erklären und erzählen, sie interessierte sich anscheinend
sogar für die alten verwickelten Besitzverhältnisse, über die er berichtete. Er zeigte ihr
(und Paul auch) die Konstruktions- und Baupläne, und beim Essen beschrieb er Esther
in allen Einzelheiten, wie hier früher Mehl gemahlen wurde und was sich da befunden
hat, wo jetzt der Tisch, die Couch, der Geschirrschrank stehen.

Alle Räume hatten gewölbte Wände, und vom obersten aus hatte man eine tolle
Aussicht über die Landschaft, die flach war, mit kleinen Wäldchen zwischen endlosen
Rübenfeldern. Da erst fiel Paul auf, daß an der Mühle das wichtigste, nämlich die
Windflügel, fehlten, die nicht mehr benötigt wurden. Er sagte nichts, aber er dachte, wie
deprimierend es im Grunde war, in einer Windmühle zu wohnen, wenn man kein Müller
ist.

Während Esther und der Architekt miteinander fachsimpelten (Esther hatte sich bereits
Grundkenntnisse im Bauen angeeignet), ließ sich Paul von der Frau ein paar Bilder
zeigen. Sie war eine schlanke Person, größer als Paul, und sie war ganz hübsch, aber
schweigsam, und Paul wusste in ihrer Gegenwart auch nichts zu sagen.  

Er beschränkte sich auf Allgemeinplätze beim Betrachten ihrer Bilder, es waren fast
ausschließlich Landschaften und Blumen. Sie sagte, daß sie im Dresdner
Polizeipräsidium gerade ein Wandbild gestaltet, und da erkannte Paul, daß ihre
Landschaften alle so aussehen, als würde der Schutzmann darin für Ordnung sorgen.
Plötzlich sagte sie "Gehen wir wieder hinunter, wir wollen die beiden doch nicht so allein
lassen."

Es wurde spät, und dann meinten die Gastgeber, Paul und Esther sollten ruhig hier
übernachten, Platz wäre genug (die beiden hatten keine Kinder). Sie willigten ein, und
 
 
es war nachts wunderbar still, und Paul schlief gut.

Aber mitten in der Nacht wachte er auf und hatte großen Durst. Er ging hinunter in die
Küche, und dort standen Esther und der Architekt, sie an die Spüle, er an den Tisch
gelehnt und redeten über die ägyptischen Pyramiden. Esther lächelte und rief "Paul, du
kleiner Nachtwandler, kannst du nicht schlafen?" Es war die Haltung, die ihm an dem
Architekten missfiel, die lässig übereinandergeschlagenen Beine, die aufgestützten
Arme, der leicht hervorgehobene Unterleib. "Nein, ich habe bloß Durst." Der Architekt
reichte ihm sofort ein Glas Wasser, Esther sagte "Ich komme dann auch gleich, Schatz",
und er legte sich wieder hin und schlief bis zum Morgen durch.

"Weißt du", sagte er, "es ist ganz schön dort bei denen und interessant ist es sicher
auch, ich meine, so eine umgebaute Mühle findet man nicht alle Tage. Aber ehrlich
gesagt habe ich keine große Lust, noch mal hinzugehen. Du?" Esther war gerade damit
beschäftigt, ein Photo von einer Steinskulptur zu machen, die in einem kleinen
heruntergekommenen Park stand. "Bitte? Was sagtest du?" "Ob du noch mal zu deinem
Architekten willst?" "Mein Architekt? Was soll denn das heißen?", lachte sie.

Und als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, kam sie auf ihn zugesprungen und hielt den
Photoapparat auf ihn gerichtet. "Bleib' mal so." "Was ist?" "Das muss festgehalten
werden, mein eifersüchtiger Ehemann, das ist urkomisch!" Sie knipste ein paar Mal. Er
sagte "Eifersüchtig? Auf wen? Auf ihn etwa?" "Oh ja, auf deinen Nebenbuhler, oh, seht
nur, wie zornig er wird, ja, das weckt den Ritter in ihm." "Hör auf damit. Ich bin nicht
eifersüchtig." Sie schmiegte sich an ihn und er bekam einen Kuss. "Es gibt dafür auch
gar keinen Grund."

Sie waren nicht noch mal dort. Trotzdem schwatzte Esther noch Wochen lang von allen
möglichen Bauwerken, und ob er wüsste, daß es in London ein altes Wasserwerk gebe,
das man zu einem Kaufhaus umgebaut habe, mit einer riesigen Glasfassade, oder war
es vorher ein Gefängnis gewesen?
 
* * * * *

Am Freitag spätabends klingelte das Telephon, und Paul nahm ab. Es war Lydia, die sich
über den Mann beschwerte, den Paul wegen der Elektrik zu ihr geschickt hatte. Der
wäre unmöglich gewesen, hätte sich aufgeführt wie der Hausbesitzer und habe sie
beschimpft, weil sie angeblich alles hatte verrotten lassen. Dabei hätte er selber keine
Ahnung gehabt und von dem Aufzug gleich ganz die Finger gelassen. "Bei allem guten
 
 
Willen, Paul", sagte sie, "aber so was können wir uns schenken."

Paul wusste gar nicht wie ihm geschieht. Er brauchte einen Moment, um sich zu
besinnen, dann entgegnete er ihr mit aller Ungerührtheit: "Fühlen Sie sich jetzt besser,
Lydia?" "Wie? Was? Warum soll ich mich schlecht gefühlt haben? Mir geht's gut. Ich
habe nur ein Problem mit solchen Leuten, die so tun, als könnten sie alles besser als ich
und mich wie eine kleine Fischersfrau behandeln." "Eine Fischersfrau?" "Ach lenken Sie
nicht ab, Paul."

Sie machte eine Pause, dann sagte sie "Ich wollte nur, daß Ihnen das klar ist." "Ja, gut,
ich werde es meinem Kollegen ausrichten, buenas noches Lydia." Sie schwiegen beide,
er konnte ihren Atem hören, dann sagte sie fast leise "Gute Nacht, Paul." Am meisten
war er irritiert davon, um welche Zeit Lydia angerufen hatte, um ihn mit so einer
Lappalie zu belästigen.

Er suchte nach der Branntweinflasche, fand sie aber nicht. Er ging zu Bernarda, die
beim Backen war, sie sagte, es sei kein Schnaps mehr im Hause. Er ging brummig
zurück in sein Arbeitszimmer.

Am folgenden Abend kam Bernarda herein und brachte ihm eine Flasche Whisky.
"Woher haben Sie den?", fragte er beinahe vorwurfsvoll. "Gekauft natürlich, Sie wollten
gestern doch welchen haben." Er bedankte sich artig. "Trinken Sie nicht gleich alles",
sagte Bernarda im Hinausgehen, dann drehte sie sich noch mal um und ließ ihren Blick
durch das Zimmer schweifen, "Wollen Sie, daß ich hier mal aufräume?" Er sah erst sie
an, dann das Zimmer, überall lagen Esthers Briefe herum, manche Blätter waren unter
den Tisch gefallen, andere hatte Paul mit Gegenständen beschwert (zum Beispiel auf
dem Fensterbrett), als sollte der Wind sie nicht fortfegen. Bernarda vermutete ganz
richtig: er hatte das getan, als er zuviel getrunken hatte. "Nein, lassen Sie nur,
Bernarda, ich mache das selbst. Ich muss sie erst wieder sortieren." "Gewiss kommt
bald Post von Ihrer lieben Frau", sagte Bernarda sehr warmherzig, "ich habe das im
Gefühl." Paul lächelte ihr zu. "Danke."

Das mit dem Sortieren wäre angebracht gewesen, sie waren alle durcheinander geraten.
Paul musste feststellen, daß Esther am meisten über jene Erlebnisse schrieb, die sie
gemeinsam hatten, bevor er das erste Mal nach Südamerika ging. Und
merkwürdigerweise rief er sich jetzt all das in Erinnerung, wovon Esther offenbar schon
längst gezehrt hatte, ohne daß ihm bewusst geworden war, wie viel es ihr bedeutet und
wie sehr sie sich daran festklammert. Er war in seinen Antworten kaum darauf
 
 
eingegangen, das musste er jetzt eingestehen, und dabei hätte sich Esther womöglich
gewünscht, diese Erinnerungen an eine sorglose Zeit so unmittelbar mit ihm zu teilen,
wie es eben auf die Entfernung ging. Oder war es genau dieses Gefühl einer
verlorengegangenen Gemeinsamkeit, ein Gefühl, das er fürchterlich sentimental fand,
gegen das er sich wehrte?

Sentimental zu sein, das hatte er Esther einige Male vorgeworfen und sie damit sogar
zum Weinen gebracht. Oh, wie schämte er sich jetzt dafür! Er hatte sie (und sich doch
auch) immer wieder darin bestärkt, daß ihre gemeinsame große Zeit noch bevorstünde,
er hatte alles in den frohesten Farben ausgemalt, darauf hatten sie sich doch so gefreut,
als sie heirateten, auf das tolle Pläneschmieden! Und was war daraus geworden? Was
hatte er unternommen, damit diese Zeit endlich anbricht? Er war fortgegangen. Mit den
trivialsten Argumenten dafür, daß dies notwendig sei. Er hätte sich gegen ihren Vater
stellen müssen, und er hätte Esther von ihm befreien sollen. Stattdessen hat er der
Firma gedient und sich Josef Waldstein unterworfen. Und am schlimmsten: er war auch
noch fassungslos darüber, daß Esther sich auf die Seite des Vaters stellte. Dabei war es
genau das, was er, Paul selbst, durch sein Handeln verursacht hatte.

Es war ihm an diesem Abend so weinerlich zumute, daß er nicht weiterlesen konnte.
Tagsüber suchte er Ablenkung bei der Arbeit, und es schien zu klappen. Abends ging es
ihm besser und er war wieder soweit, sich in ihre Briefe zu vertiefen, ohne von
Schuldgefühlen befallen zu werden. Vielleicht lag eine wundertätige Wirkung in ihnen,
die Esther beim Schreiben hatte miteinfließen lassen, für den Fall, daß ihnen beiden die
Trennung so sehr zu schaffen macht.

Aus ihrer Wohnung in Laubegast waren sie auf die andere Seite des Flusses gezogen, in
den ersten Stock eines Hauses, das ein Stück abseits der Straße stand und das an der
Sonnenseite dicht mit Weinpflanzen bedeckt war, die sich an einem Holzgitter empor
rankten.

Später schrieb Esther jedesmal über irgendeine neue Errungenschaft in der Wohnung,
einen neuen Teppich ("einen echten Perser"), einen Sessel, in dem sie herrlich
"rumfläzen" konnte oder schlichte, aber praktische Gartenmöbel. Im Herbst hatte sie
neue Fenster im Wohn- und im Schlafzimmer einbauen lassen, ganz moderne, die
angeblich die Wärme besser im Innern hielten. Und prompt wurde der folgende Winter
(übrigens der erste, in dem Paul nicht zu Hause war) bitterkalt, "wie ich es
vorausgesehen habe".

 
 
Die Gegend auf dieser Elbseite hatten sie vorher schon gelegentlich erkundet.
Gegenüber vom Haus ging ein Hang ziemlich steil in die Höhe, und eine Straße
schlängelte sich in Serpentinen hinauf, zum Spaziergehen war es da zu unwegsam.

Es verschlug sie immer weiter flussaufwärts, der Elbhang war dort weiter vom Ufer weg,
und es gab eine Fläche, wo eine Quittenplantage war, auf der die gelben Früchte in
Hülle und Fülle an den niedrigen Bäumchen hingen. Dort stibitzten sie drei große
Taschen voll, und Esther machte Quittengelee, so viel, daß sie nachher das meiste
verschenkten.

Noch weiter hinten gab es etliche Täler, die sich in den Berghang eingeschnitten hatten.
Es waren schmale, tiefe und dunkle Gründe, mit schlanken hohen Buchen an den Seiten
und fast immer einem Bach, der über Stock und Stein hinabgluckerte. Vor Zeiten stand
in manchem Tal eine Wassermühle, zwei, drei gab es noch, außer Betrieb, und sie
machten ganz den Eindruck von Behausungen für Räuber und Wilddiebe.

Bis auf eine im Schiefergrund, die zu einer Schänke ausgebaut worden war. Die
Schiefergrund Schänke war ein beliebtes Ausflugslokal für alle möglichen Korporationen
aus der Stadt, die sich hier mit ihren Namen auf Holztafeln verewigten, die
Baumstämme waren übersät damit. Außerdem stand da auf der Freiterrasse ein
überdimensionaler Richard Wagner Kopf, angeblich hatte sich der Komponist hier für
irgendwelche Szenen in seinen Opern anregen lassen.

Wenn man es bis zur Schiefergrund Schänke geschafft hatte, war es eine Wonne, sich
mit einem kühlen Bier zu erfrischen, und Esther und er zählten sich bald schon zu den
Stammgästen.

Irgendwann gesellten sich zu den Studenten immer öfter und immer mehr SA-Männer,
oder viele von den Studenten traten von nun an in Uniform auf. Es erschienen auch
junge, gutaussehende Männer von der SS, die sich im Gegensatz zu den braunen
Horden nicht mit groben Trinksprüchen und markigen Liedern ergötzten.

Zum Himmelfahrtstag hielt ein Dresdner Parteifunktionär eine Rede und anschließend
gab es einen kleinen Gottesdienst, und zu irgendeinem Anlass, der Paul jetzt entfallen
war, hatte die SA bei Einbruch der Dämmerung eine Zeremonie mit Fackeln
veranstaltet, die in dem Waldesgrund beim Feuerschein wirkte, wie wenn die Statisten
einer Freischütz-Aufführung aufbrechen, den Kaiser Barbarossa zu erwecken. Paul und
Esther gerieten in solche völkischen Szenen hinein ohne es zu ahnen.  
 

 

Endgültig verleidet wurde ihnen die Schiefergrund Schänke, als sich eines Sonntags ein
SS-Untersturmführer mitten unter die Gäste hinstellte und alle Juden unter ihnen
aufforderte, sofort das Lokal zu verlassen.

Als nichts dergleichen geschah, holte der SS-Mann tatsächlich seine Pistole aus dem
Holster, hielt sie drohend in die Luft und wiederholte seine Aufforderung, woraufhin vier
oder fünf Männer aufstanden und gingen. Dem einen rief das Serviermädchen, eine
vollbusige, strohblonde Maid, hinterher "Aber erst bezahlen, mein Herr." Und plötzlich
sprangen ein paar andere Gäste von ihren Stühlen auf und stürzten sich auf ihn. Einer
durchwühlte seine Taschen, fand eine Geldbörse und warf sie der Kellnerin zu. Die fing
sie mit ihrem Tablett auf und nahm sich das Geld heraus, während die anderen den
vermeintlichen Zechpreller über die Abgrenzung aus Birkenstämmchen hinweg in den
Abgrund schmissen, daß er bis in den Bach purzelte. Die Kellnerin ließ die Börse
hinterherfliegen. Es gab ein allgemeines Gelächter und Gejohle, und Paul spürte, wie
Esther unterm Tisch seine Hand fasste und sie festhielt.

In einem Brief hatte Esther ihm mitgeteilt, daß der Doktor Schlesinger ihnen (also
eigentlich war sie an Joseph Waldstein adressiert) eine Postkarte aus Californien
geschickt hat, wo er nach einer Monate langen Odyssee angekommen und sich
niedergelassen hat.

Doktor Schlesinger war Kinderarzt am Dresdner Klinikum gewesen, und er hatte Esther
behandelt, als sie all die üblichen Kinderkrankheiten durchmachte und als sie in der
Pubertät manchmal nervliche Schwächen hatte. Er war sozusagen der Hausarzt der
Familie (als auch Esthers Mutter noch dazugehörte), und er war auf seinem Gebiet eine
Koryphäe.
 
Esther schrieb, die Postkarte zeige eine Ansicht von der Strandpromenade mit richtigen
Palmen und riesigen weißen Limousinen ohne Dach, "weil es dort so warm ist". Paul
musste schmunzeln. Hatte er seinen Briefen nicht mehr als ein Dutzend Photos von hier
mit der üppigsten Vegetation beigelegt? Allerdings, das musste er zugeben, hatte
Esther auch darüber jedesmal gestaunt. Der Vater sei von Doktor Schlesingers nettem
Gruß völlig unbeeindruckt gewesen und habe lediglich geäußert, es sei nicht recht von
einem Arzt, seine Patientenschaft so im Stich zu lassen.

Es gab damals im Februar eine Zeit, als sich Esther ziemlich komisch fühlte. Sie
druckste herum und schien es vor Paul verbergen zu wollen, aber gleichzeitig suchte sie
 
 
seine Nähe und Zuwendung. Was mit ihr los wäre, fragte er. Nichts. Es wäre doch
irgendwas. Nein, gar nichts.

Dann sagte sie eines Morgens wie nebenbei, aber so, daß er es mitbekommt, ihre
Periode wäre seit zwei Monaten ausgeblieben. Sein Gesicht erstarrte. Und? Was
bedeutet das? Nichts, erwiderte sie unbekümmert, so etwas kann öfter vorkommen. "Ja,
aber bei dir ist es das erste Mal, oder?" "Ja."

Nach einer Pause sagte sie: "Es kann natürlich auch sein, daß ich schwanger bin." "Im
Ernst?", rief er so heftig, als habe er gerade erfahren, daß sich das Magnetfeld der Erde
umgepolt hat. "Sachte, sachte, du erschrickst mich ja", sagte sie und lachte dabei. Und
da es jetzt heraus war, redete Esther in diesem Ton weiter, eine Mischung aus
Begeisterung und Besonnenheit, während Paul versuchte zu entscheiden, was als
nächstes zu tun sei.

Da war der Doktor Schlesinger schon nicht mehr da, und die anderen jüdischen Ärzte
aus seinem Umkreis waren mit Berufsverbot belegt. Das Klinikum hatte, trotz aller
Gegenbemühungen einen miesen Ruf bekommen. Gerade was Entbindungen anbetraf,
gab es praktisch nur eine erste Adresse, nämlich das Krankenhaus in der Friedrichstadt.
Das lag von ihrer Wohnung aus am anderen Ende, und Paul verzweifelte beinahe, indem
er die Notwendigkeit, Esther dorthin zu bringen gegen die Strapazen abwog, welche
eine zweistündige Straßenbahnreise für sie bedeuten würde. "Aber Liebling, ich bin doch
nicht im achten Monat", sagte sie, und er erklärte ihr, daß die Erschütterungen auf den
Gleisen oder eine plötzliche Bremsung den größten Schaden anrichten können, bis hin
zur Fehlgeburt, worauf sie es beide mit der Angst bekamen.

Paul hatte eine Idee. Ein paar Häuser weiter nebenan war eine Automobilwerkstatt,
vielleicht wären die so freundlich, ihnen einen Wagen zu leihen. Der Mechaniker hätte
das gern getan, aber es war kein Wagen verfügbar. "Worum geht's denn?", fragte ein
Gefreiter von der Wehrmacht, der mit seinem Lastwagen da war. Paul erwiderte, seine
Frau müsse so schnell wie möglich ins Friedrichstädter Krankenhaus.

Der Gefreite erklärte sich bereit, sie mitzunehmen. Sie setzten sich vorn mit ins
Fahrerhaus, Esther zwischen die beiden. Der Gefreite hieß Rhyks und hatte einen
unheimlichen Silberblick. Er fuhr gut, aber er musterte Esther ständig von der Seite, als
wäre er sich nicht ganz sicher, ob er sie kennt. Paul sah ihn auch an und bemerkte, daß
sein Blick irgendwohin ging. "Würden Sie bitte auf die Straße achten", sagte er. "Mach'
ich doch", sagte der Gefreite Rhyks.  
 

"Sie bekommen also ein Kind?", fragte er Esther, und Paul wies eindringlich mit der
Hand nach vorn. "Wahrscheinlich", sagte Esther und lächelte. "Was haben Sie
geladen?", fragte ihn Paul. "Gasflaschen." Die beiden zuckten zusammen und wandten
sich um. "Fürs Schweißen in der Werkstatt", sagte der Gefreite Rhyks. "Würde es Ihnen
etwas ausmachen, sie abzuladen?" "Wieso? Brauchen Sie welche?" "Jetzt übertreib'
nicht, Liebling", meinte Esther und streichelte seine Hand.

Rhyks sagte "Wenn's ein Junge wird, nennen Sie ihn Max." Es war nicht herauszuhören,
ob das eine Frage oder eine Forderung sein sollte. "Gefällt Ihnen Max?", wandte er sich
an Esther. "Na ja, ist nicht schlecht. Aber ich kann das nicht allein entscheiden", fügte
sie hinzu, als würde sie ihn zumindest in die engere Wahl ziehen. Paul murmelte: "Und
wenn es Zwillinge sind, nennen wir den anderen Moritz." "Da würden sich die Jungs
aber später schön für bedanken", prophezeite Rhyks. "Vielleicht wird es ja auch ein
Mädchen", sagte Esther.

Der Gefreite Rhyks setzte sie vorm Krankenhaus ab. "Mein Gott, wo müssen wir denn
nun hin?", fragte Esther, als sie die Tafel mit den Abteilungen las. "Am besten in die
Notaufnahme", entschied Paul. "Da gehen Sie in die Abteilung VI, dritter Stock", sagte
die Schwester, nachdem sie einen Blick auf Esther geworfen hatte.

Sie mussten warten, eine Schwester nahm Esthers Personalien auf. Paul machte die
Angaben, er sagte, ihr Vorname ist Edda. Die Schwester wollte den Ausweis sehen, Paul
sagte, den hätten sie in der Eile vergessen. Dann musste sie ins Behandlungszimmer.

Sie fuhren mit der Straßenbahn zurück, sie saßen schweigend, Esther hielt das Rezept
vom Arzt zwischen den Fingern, als würde darauf stehen, wo sie aussteigen müssen.
Dann fragte sie ihn "Bist du enttäuscht?" "Nein, gar nicht." "Traurig?" "Nein." Er gab ihr
einen Kuss. Sie meinte "Beim nächsten Mal klappt's bestimmt." "Ja. Jetzt wissen wir ja,
wie's geht." Sie mussten beide lachen.

Sie holten sich bei Feinkost Vogel eine Flasche Rotwein. Als es dämmerig wurde, machte
Esther ein paar Kerzenlichter an. "Es ist schön mit dir", sagte Paul. Als sie aus dem
Badezimmer zurückkam, war er auf dem Sofa eingeschlafen.

 
 

 

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