Clemens Esser / Das sozialistische Ei / Leseprobe

Exposé

 

In einer Satire wird erzählt, wie ein frustrierter Beamter in einem Ministerium es schafft, den deutschen Einigungsvertrag kurz vor Drucklegung um die Bestimmung zu ergänzen, dass Orte in der ehemaligen DDR wieder DDR- Recht einführen dürfen. Das bemerkt niemand, weil gut im Text versteckt. Erst ein cleverer Bürgermeister im Erzgebirge entdeckt es zufällig und setzt diese Bestimmung mit den pfiffigen Bürgern seiner kleinen Gemeinde in der Gestalt um, dass sie volkseigene Betriebe im Besitz der Gemeinde gründen. Der Witz der Angelegenheit liegt darin, dass solche Betriebe in der DDR steuerfrei waren. Und so schaffen sie sich mit Hilfe der Steuer, welche direkt in die Gemeindekasse umgeleitet wird, für etwa drei Jahre ihre eigene „blühende Landschaft“. In der Geschichte wird geschildert wie das geht und welche Personen in dem kleinen Dorf ihre mehr oder weniger skurile Rolle dabei spielen.

Gleichzeitig wird erzählt, wie sich die zuständigen Behörden und ihre Beamten entweder nicht zuständig fühlen oder aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, dem ein Ende zu bereiten. Dabei halten sich alle immer an das Gesetz. Erst als die Geschichte dann in die Presse kommt, wird es ernst. Es gibt internationale Verwicklungen verschiedener Art, u. a. weil man Deutschland vorhält, wieder den Sozialismus einzuführen. Jetzt müssen Bundestag und Bundesrat aus den Sommerferien zurückgeholt werden. Die Politiker trauen

sich aber nicht dran, schließlich will keiner der Verursacher sein. Aus tragischen Gründen kann der auch nicht mehr gefunden werden und so muss das Verfassungsgericht das kleine Dorf stoppen.

Insgesamt werden viele handelnde Personen überspitzt, aber im denkbar möglichen Bereich auf humorvolle und satirische Art geschildert. Sie geben der Geschichte den Anstrich der Wahrscheinlichkeit.

 

 


Leseprobe

 

 

 

Vorwort

 

 

Mit der nachfolgende Geschichte wird eine Satire von einer teilweise Wiederauferstehung der DDR erzählt, die nicht wahrscheinlich, aber mit dem real existierenden deutschen Beamtenapparat und mit findigen Staatsbürgern vielleicht möglich gewesen wäre. Sie könnte auch nur in einem Staat wie Deutschland passieren, wo man immer alles Politische etwas ernster nimmt, als in anders organisierten Staaten. Abgesehen davon, dass es nicht möglich wäre es so weit zu treiben, wie es in Wanderfels passiert ist, ist es durchaus vergnüglich, die Einzelschicksale zu betrachten, die fiktiv von einer solchen Affäre betroffen wären.

Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden. Sollte jemand glauben, sich wiederzuerkennen, ist dies ein Zufall und nicht beabsichtigt. Für diesen Fall sollte man sich aber vor der Genialität des Betroffenen verneigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

I

 

 

 

In einem Altenwohnheim am Rhein in der Nähe Bonns mit dem herrlichen Blick auf das Siebengebirge geschah an diesem Vormittag etwas sehr verwunderliches. Der pensionierte Beamte Bernd Obermaier hatte sich gerade zum Frühstück hingesetzt und trank seinen Kaffee. Er war als freundlicher Zeitgenosse bekannt und genoss die Wertschätzung sowohl des Personals als auch der meisten der übrigen Heimbewohner. Er hatte sich selbst in dieses etwas gehobenere Haus eingekauft. Das konnte er sich leisten, weil er zum einen eine gute Pension bekam und zum anderen durch geschickte Geschäfte mit Wertpapieren in den letzten Jahren einiges zurückgelegt hatte. Dies bescherte im nunmehr einen fast sorgenfreien Lebensabend. Ansonsten galt er als meist gutgelaunt und lebenslustig, weswegen ihn viele andere Heimbewohner etwas schief ansahen. Sie selbst hatten oft das Lachen verlernt und grantelten lieber herum, wie das leider viele Alte so tun. Als Obermaier aber an diesem Morgen die Zeitung aufschlug, konnte man beobachten wie er rot anlief und einen Lachkrampf bekam. Dabei stieß er etwas aus, was sich wie

„gelungene Rache“ und „ hahaha, es hat geklappt“ oder so ähnlich anhörte. Die herbeieilenden Schwestern kriegten ihn nicht beruhigt, er lachte immer weiter, was ihm sein im Lauf der Jahre durch reichlichen Weinkonsum geschädigter Kreislauf übelnahm. Er verschied somit trotz großen Bemühungen des Personals im Kreise seiner Mitbewohner schnell und mit soviel Heiterkeit, dass sich mancher der Anwesenden an dem Gedanken ergötzte, es wäre ja eigentlich gar nicht so übel auch auf diese Weise die hiesigen Gefilde zu verlassen. Es wurde später berichtet, dass selbst die Angehörigen Mühe hatten, richtige

 

Trauer zu empfinden. Er grinste noch im aufgebahrten Sarg so unverschämt, dass der Pfarrer die Gelegenheit wahrnahm auf der Trauerfeier zu erläutern, dass dies ein leuchtendes Beispiel für den Glauben an die zukünftige Welt sei. Hier könne man sozusagen den Frieden und die Freude der künftigen Welt sehr lebendig, beziehungsweise sogar am nicht mehr lebendigen Leib, schon auf Erden erkennen. Es müsse sich um einen tiefgläubigen Menschen gehandelt haben. Die Angehörigen hörten sich das recht verständnislos an, so etwas konnten sie sich bei ihm nicht vorstellen. Wie recht sie hatten! Aber er hatte die Ursache für seine überschäumende Freude als Geheimnis mit ins Grab genommen, und es sollte auch nie jemand erfahren, was es war. Jedenfalls waren es nicht seine Erwartungen an das Leben nach dem Tode, sondern seine Freude war ganz und gar, wie die Verwandten richtig aber ungewiss

vermuteten, irdischen Ursprungs. Der einzige Anhaltspunkt war an jenem tragisch-komischen Vormittag die Schlagzeile der Morgenzeitung, die da hieß:

Gemeinde in Ostdeutschland hat legal DDRRecht eingehrt. Verwicklungen nationaler und internationaler Art werden befürchtet.

Wie konnte es dazu kommen, was war hier passiert, was hatte Obermaier damit zu tun ?

Bernd Obermaier war das, was man eine rheinische Frohnatur nennen konnte. Er hatte zeitlebens versucht dem Leben jeweils die angenehmen Seiten abzuringen und hatte unter anderem auch deswegen die Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Er wusste, es konnte im Beruf durchaus stressig werden, aber das Gehalt war sicher und die Freizeit planbar. Schließlich wurde man vom Staat alimentiert und konnte mit Ruhe und Gelassenheit in die Zukunft sehen. Wenn da nicht die Kollegen und Vorgesetzten wären, die einem das Leben durchaus einmal sauer machen konnten. Aber er hatte gelernt damit umzugehen und galt als freundlich und hilfsbereit, ja hatte es sogar geschafft im Lauf der

 

Jahre im Bundesministerium für Justiz, im damaligen Regierungssitz in Bonn, zu landen. Hier bekam er allerdings, bedingt durch einen direkten Vorgesetzten mit über mehreren Generationen verbriefter preußischer Herkunft, ein Problem. Auf einer Betriebsfeier, aber noch nicht wirklich alkoholisiert, verkündete er seine Sympathie mit der Einrichtung eines „Mittelrheinischen Departements“ mit Regierungssitz in Koblenz, bei gleichzeitigem Anschluss an die Republik Frankreich. Die mitfeiernden Kollegen fanden das auch Klasse, vor allem da

sie wussten, was ihr Chef dazu infolge seines ins Gehirn gebrannten preußischen Selbstbewusstseins dazu meinen musste. Sie malten sich das neue französische Staatsgebiet im Lauf der Feier bei steigendem Bierkonsum in leuchtenden Farben, vor allem mit der daraus folgenden Unabhängigkeit von der deutschen Politik, aus. Nach dem ersten geleerten Fass Kölsch, das bei Betriebsfeiern zum Standardgetränk gehörte, entwickelten Einige die Vorstellung, als erstes würde man einen Ableger des „Moulin Rouge“ in Bonn etablieren. Das versetzte die Kollegen in Hochstimmung. Als dann auch noch der Kollege Obermaier unter allgemeinem Gejohle laut „vive la France“ rief, ging das dem Chef bei aller Toleranz dann doch zu weit. Er vermutete ein allgemeine Verschwörung im Rheinland, der man unverzüglich Einhalt

gebieten müsse. Er konnte sich als korrekter und eigentlich humorloser Mensch nicht vorstellen, dass es sich um eine Vorstellung seiner Untergebenen

handelte, die eher in den rheinischen Karneval gehörte, was bei Feiern in Bonn zu vorgerückter Stunde eigentlich allgemein Usus war. Schließlich waren seine Leute noch nicht besoffen genug, um die ketzerische Wirkung ihres Tuns nicht mehr zu gewärtigen! Sein anerzogenes preußisches Denken, das, wie gesagt, sozusagen wie in Stein gemeißelt hinter seiner Stirn verankert war, hatte daher dieser abstruse Gedanke in Frankreich leben zu müssen gleichsam wie ein Komet getroffen. In einem Funkenregen reflexartiger Abwehrreaktionen widerte ihn dieser abscheuliche Gedanke förmlich an, und er hatte ihn

 

entsprechend dem Vorbild preußischer Pflichterfüllung kommentiert. Dies war dummerweise sehr nachhaltig gedacht und sollte sich in folgenden Jahren als Karrierebremse für den Initiator des Spaßes, den Beamten Obermaier, auswirken. Mit so einer Gesinnung konnte man nicht in einer deutschen Regierungsbehörde arbeiten! Irgendwann begann dieser daher auf Rache zu sinnen, wartete aber ab, schließlich muss man auf gute Gelegenheiten lauern und durfte nichts überstürzen. Das hatte er in jedem Fall als Beamter verinnerlicht, abwarten und die Situation immer erst sorgfältig prüfen. Die Versuchung, sich an diesem, von ihm im Lauf der Zeit als Unrechtssystem empfundenen Zustand zu rächen, sollte sich für ihn dann in grandioser Form bei der deutschen Wiedervereinigung bieten. Die Rache würde ausreichen, um ihm einen fröhlichen Ruhestand zu gewährleisten. Immer wenn er dann daran denken konnte, würde es ihm gut gehen. Dass ihn die Folgen dieser geplanten Racheaktion möglicherweise das Leben kosten sollte, hatte er aber nicht ins Kalkül gezogen.

 

Die Verhandlungen über den Einigungsvertrag waren abgeschlossen, die Texte für das entsprechende Gesetz lagen vor. Der Computer hatte seinen Siegeszug in die obersten Bundesbehörden noch nicht angetreten. Wie es vorgeschrieben war, mussten daher diese Texte noch Wort für Wort von zwei Beamten gelesen und korrigiert werden, ehe die Bundesdruckerei die Datensätze als Endfassung drucken konnte, damit selbige von den Beteiligten unterschrieben und als Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden konnten. Diese Arbeit war nicht unbedingt die kreativste und wurde daher von seinem Chef an den Beamten Obermaier und einen Kollegen übertragen. Dies verstand sein Chef durchaus als weitere Maßregelung, insbesondere da Obermaier sich in letzter Zeit sehr um die Beschaffung von Eintrittskarten für Theater und Konzerte in Bonn für sich und die Kollegen gekümmert hatte, und das während der

 

Dienstzeit. Die Kollegen fanden diesen Service äußert angenehm, da manche Karten tatsächlich nur zu bekommen waren, wenn man bereits am Vormittag bei der Theaterkasse anstand. Es ging auch deshalb gut, weil einige seiner höheren Vorgesetzten diesen Service auch gerne annahmen und gar nicht wirklich wissen wollten, wieso sie in diesen Genuss kamen. Ihm tat also keiner was und sein Chef sah sich das misstrauisch an, wollte aber wegen der Pflege seines Verhältnisses zu den eigenen Oberen nicht einschreiten. Jetzt hatte es

den Beamten Obermaier aber erwischt. Dieser sah sich während des Lesens plötzlich mit dem großartigen Gedanken, sich ausgiebig und nachhaltig zu rächen, beglückt. Wenn man schon für den eigentlich lustig gedachten Gedanken des (Wieder-)Anschlusses des Rheinlands an Frankreich seine Karriere opfern musste, könnte man vielleicht dafür sorgen, dass die DDR in kleinen aber wirkungsvollen Teilen erhalten blieb oder unversehens wieder auferstehen konnte. Der Gedanke durchschoss ihn wie ein Blitz und vom Augenblick an machte ihm seine Arbeit soviel Freude, dass sein Chef dies, entsprechend seiner ihm eingemeißelten Gedankenwelt, auf die unbändige Freude seines Untergebenen über die Wiedervereinigung, vor allem der alten preußischen Lande an den Rest Deutschlands, zurückführte. Er lächelte Obermaier morgens neuerdings wohlwollend an und sinnierte darüber nach, ob er seinen Beamten nicht doch in der turnusmäßig anstehenden Beurteilungsrunde eine Stufe anheben konnte.

Obermaier dachte jedoch an etwas viel perfideres. Er wollte dem Vertrag einen Satz hinzufügen, der seinen Gedanken entsprach. Und das machte er so: Seit einiger Zeit hatte er sich mit einer Dame im Schreibbüro angefreundet und da er als bekennender Junggeselle nie etwas anbrennen ließ, mit ihr einen

„Fisternöll“ begonnen. So nennt man im Rheinland eine nicht allzu ernst gemeinte und auf kurze Dauer angelegte Beziehung. Von den Kollegen im

 

Büro hatte davon niemand etwas mitbekommen. Er war diskret und sie selbst erzählte ohnehin nie etwas Privates im Büro. Sie galt deshalb als sehr vertrauenswürdig. Dies kam Obermaier jetzt zur Hilfe. Er war schon einmal daran beteiligt, wie Kollegen kleine Gesetzesänderung – meist nur Klarstellungen – heimlich in Gesetzestexte eingeflochten hatten, die dann durch den Umfang und die teils umständliche Sprache solcher Texte keinem mehr aufgefallen waren. Nach dem Lesen der Korrekturen hatte in der Regel keiner mehr Lust auf weitere Kontrolllesungen, auch deshalb, weil sie nicht mehr vorgesehen waren. Darauf, dass schon gar nicht die Politiker welche diese Gesetze zu verantworten hatten, nochmals lasen was sie zu beschließen hatten, konnte er sich blind verlassen. So schritt er also zur Tat. Seine temporäre Geliebte hatte bereits das Schreibbüro verlassen. Der Vertrag war gelesen und korrigiert, sein ihm zugeteilter Kollege hatte das Büro verlassen, und der Text sollte am nächsten Morgen in die Druckerei geschickt werden. Da eben der Computer zu dieser Zeit noch keinen Einzug in die Behörden gehalten hatte, gab es noch ein Zwischending, den Schreibautomaten mit einer begrenzten Speicherfähigkeit. Er hatte sich daher von ihr – offiziell als vorsorgliche Maßnahme getarnt – die Sicherungscodes für eben jenen Schreibautomaten, auf dem der Vertrag gespeichert war, geben lassen, was sie auch arglos getan hatte. Er war als integrer Kollege bekannt und von seiner Rachsucht hatte sie keine Ahnung. So ging er völlig unbeobachtet in ihr Büro, warf den Automaten an

und fügte in die von ihm vorher genau ausgesuchte unübersichtliche Stelle eines Wustes einzelner Bestimmungen den Satz ein:

 

Sofern es ein Gemeinde- oder Stadtrat auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mit einfacher Mehrheit beschließt, können dort unbeschadet dieses Vertrages einzelne Gesetze oder Bestimmungen der DDR weiter oder wieder angewendet werden.

 

Das war seine Rache, sie war zwar gefährlich für ihn, sollte er auffallen, aber süß und als Zeitbombe angelegt. Vor allem wusste außer ihm keiner davon und das machte ihn sicher. Seine Kollegen hatten anschließend allen Anlass seine neugewonnene Heiterkeit zu bewundern, erklären konnten sie sich die nicht. Ein Jahr später ging er, wie auch der Kollege der den Text mitgelesen hatte, dann mit 60 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand, keiner hatte von seinem

Coup etwas erfahren. Wie vorhergesehen, hatte auch niemand mehr den Vertrag an dieser langweiligen Stelle gelesen. Die Vereinigung fand statt und nach dem ganzen Trubel las auch keiner mehr diese „Zusatzbestimmung“. Aber die Bombe tickte und sollte dann doch irgendwann zünden, hoffte er. Und das war nunmehr zu seiner großen, aber leider tödlichen Freude, geschehen.

 

 

 

 

II

 

 

 

Wanderfeld, ein kleines Dorf in der lieblichen Landschaft des Erzgebirges. Die Natur ringsum war noch halbwegs in Ordnung, kleine Waldflecken wechselten sich mit ausgedehnten Wiesen ab, auf denen Kühe grasten. Die Jahreszeiten waren wie überall. Im Sommer konnte es glühend heiß werden, im Winter lag in kalten Jahren meist durchgehend Schnee. Fremde verirrten sich selten in das Dorf, obwohl es relativ nahe an der nächsten Kreisstadt lag. Es handelte sich

im einen kleinen Ort am Rande des Erzgebirges, der durch seine bäuerliche Struktur wie jedes andere Dorf in der Gegend aussah und machte auch den entsprechenden Eindruck. Fremde, die aus welchem Grunde auch immer den Ort besuchten sahen meist zu, dass sie sich nicht länger wie erforderlich dort aufhielten. Die Straßen befanden sich noch in dem miserablen Zustand, in dem sie bei der Vereinigung vom real existierenden Sozialismus zurückgelassen

 

worden waren. Die dörfliche Struktur hatte sich so gut wie nicht verändert, abgesehen davon, dass man vor dem einen oder anderen Haus neben den überkommenen Trabis auch hin und wieder ein Auto westlichen Fabrikats stehen sah. Bei einigen Häusern waren die Dächer erneuert, dies war die nötigste Maßnahmen nach einer mehr als fünfzigjährigen fast völligen Abstinenz von Dachziegeln. Weiter Verschönerungs- oder Erhaltungsmaßnahmen waren, sah man von dem ein oder anderen nunmehr einfarbig gestrichene Zaun ab, bislang nicht auszumachen. Da in der DDR der Besitz von Farbe eher ein Zufall war, wurden die Zäune wie überall dort, nur gestrichen wenn man Farbe hatte. Da die wie auch immer erhältlichen Mengen für einen kompletten Zaun fast nie ausreichten, wurde das verstrichen was eben da war, mit dem Erfolg, dass viele Zäune vielfarbig da standen. Meistens passten die Farben aber nicht zueinander, so dass sie oft keinen sehr ästhetischen Anblick boten. Hier siegte ausschließlich die Zweckmäßigkeit

über die Verhinderung des weiteren Verfalls. Nun wurden sie nach und nach einfarbig, was aber die Tristesse des Dorfes noch eher unterstrich als sie aufzuhellen.

Die Leute im Dorf kamen eben so gerade über die Runden, es fehlte, vor allem in der Gemeindekasse, an flüssigen Mitteln. Eigentlich hätte das Dorf in seiner reizvollen Umgebung am Rande des Erzgebirges mit ein wenig Tourismus die Chance gehabt, die Gemeindekasse auf dem Stand zu halten der erforderlich war um wenigsten die kleine Schule des Ortes endlich einmal renovieren zu können. Der gemeindeeigene Sportplatz war nach dem letzten Winter auch nicht mehr zu gebrauchen und müsste saniert werden. Außerdem hatte der letzte mögliche Investor die Bauruine eines kleinen Hotels für Wandergäste hinterlassen. Er kam aus dem Westen und war durch wilde Spekulationen mit weiteren Grundstücken in den neuen Bundesländern um sein Vermögen

 

gekommen. Jetzt stand die Bauruine in Form eines Rohbaus am Ortsrand auf einem gemeindeeigenen Grundstück, weswegen er ihr auch gehörte. Gerne hätte man weitergebaut, aber dafür gab es kein Geld. Überhaupt hatte man sich nach der deutschen Vereinigung etwas mehr von den angekündigten

„blühenden Landschaften“ versprochen. Aber außer einer Grundsanierung der Kreisstraße und dem Anschluss des Kanalnetzes an die Kläranlage des Kreises hatte es irgendwie nicht sein sollen. Der Anschluss an die Kläranlage an das Kanalnetzes der nahen Kreisstadt dämpfte zwar etwas den Geruch der örtlichen Landwirtschaft, die Kreisstraße indes hörte bekanntlich am Ortsrand auf. Wie es in Deutschland üblich ist, gehörte sie als innerörtliche Straße der Gemeinde. Die sollte gefälligst selbst dafür aufkommen Dieser Umstand ließ für die Durchreisenden über die Buckelpiste der von der DDR übernommenen Dorfstraße die ungewollte Verwahrlosung des Ortes umso mehr hervorstechen.

All dies ging dem Bürgermeister des Dorfes, Willi Wolter, durch den Kopf, wenn er seinen allmorgendlichen Spaziergang durch das Dorf machte. Er wohnte in dem Haus, in dem das Bürgermeisteramt untergebracht war. Es war mitten im Dorf gelegen und hatte auf dem Dorfplatz vor dem Haus einen alten Lindenbaum stehen, unter dessen Geäst sich einige alte Bänke befanden. Sie wurden hin und wieder im Sommer von einigen älteren Dorfbewohnerinnen belagert, die sich dort den üblichen Dorftratsch erzählten. Viel war im Dorf nicht los und alle Bemühungen, die wirtschaftliche Situation insgesamt zu bessern, waren bislang fehlgeschlagen. Verliess Wolter das Haus, wandte er sich je nach Laune nach Rechts oder Links auf der Straße, um in einer immer gleichen Weise das Dorf zu umrunden, was in einer guten halben Stunde möglich war. Den miserablen Zustand der Häuser nahm er kaum noch zur Kenntnis. Auch das kann zur Gewohnheit werden, dachte er sich manchmal in einem leichten Anflug von Resignation. Meistens traf er einen der

 

Dorfbewohner, mit dem er dann einige Freundlichkeiten austauschte. Ihm war es immer wichtig, den Kontakt zu den Einwohnern seinen Dorfes zu halten. Schließlich fühlte er sich in gewisser Weise für sie verantwortlich und bemühte sich auch stets, den Leuten bei privaten Sorgen im Rahmen des Möglichen beizustehen. Dafür machte er auch schon mal bei krassen Notfällen wie er es nannte, eine „Anleihe“ in der Gemeindekasse, die natürlich nie zurückgezahlt wurde. Da die Kasse aber ohnehin meist leer war, waren es nie wirklich hohe Beträge. Seine in Not geratenen Mitbürger aber waren ihm dankbar dafür. Auf seiner Runde durchs Dorf kam er an der kleinen Schule vorbei, deren Zustand ihn immer wieder ein Kopfschütteln abrang, dann ging er entlang des Feuerlöschteichs, auf dem die Enten es sich wie seit Menschengedenken behaglich gemacht hatten. Dahinter befand sich ein recht großer Dorfanger, gefolgt von einem alten, schäbigen Spritzenhaus, das von einem hochbetagten Feuerlöschfahrzeug der freiwilligen Feuerwehr des Dorfes bewohnt wurde. Am Schluss seines „Umlaufs“ wie er es nannte, kam er meist noch am Dorfkrug vorbei, der in der Regel für die männlichen Einwohner des Dorfes die gleiche Funktion wie die von den Frauen im Sommer benutzten Bänke unter der Dorflinde besaß. Man tauschte sich über den neuesten Dorfklatsch aus und trank aber im Gegensatz zu den Frauen unter der Linde dabei meist Bier und manchmal auch Schnaps.

Willi Wolter, war nach der Wende als unabhängiger Kandidat zum Bürgermeister des Dorfes gewählt worden. Zwar spielte die Parteizugehörigkeit im Gemeinderat keine große Rolle, aber es war allen recht, sich nicht auf ihr Programm festlegen zu müssen. Daher kam ihnen der unabhängige Kandidat sehr entgegen. Der hatte eine, gemessen am dörflichen Bildungsstand, überragende Bildung, nämlich ein Abitur mit einem anschließenden Studium als Pädagoge. In der DDR war er mehrfach

 

aufgefallen weil er nicht „auf Linie“ zu bringen war, was die Folge hatte, ihn nach Wanderfeld in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, eine LPG, zu verbannen. Dort arbeitete er mal dies, mal das und sprang immer da ein, wo es nicht weiterging. Er galt als guter Kumpel, dem man sich gerne anvertraute. So genoss er bald das Vertrauen des ganzen Dorfes. Nach der Wende war er unumstritten der Top-Kandidat für den Posten des Bürgermeister, alle kannten und schätzten ihn. Er hatte die Wahl gerne

angenommen, die Arbeit als Lehrer, die ihm eigentlich zugestanden hätte, hatte für ihn ihren Reiz verloren. Lieber, dachte er sich, könne er bei der Wiederbelebung des Dorfes helfen und den Übergang in eine sorgenfreiere Zukunft gestalten. Einen Rest an Optimismus hatte er nie aufgegeben. Jetzt sollte er die Gelegenheit seines Lebens für die Gestaltung einer blühenden Landschaft in seinem Dorf bekommen, dank eines ihm unbekannten beamteten Scherzboldes im fernen Bonn.

Der Bürgermeister hatte seine morgendlichen „Umlauf“ beendet, saß an einem Vormittag im Frühjahr an seinem Schreibtisch und war ziemlich verzweifelt. Die Suche nach einem Investor für das unvollendete Hotel am Ortsrand war anscheinend endgültig fehlgeschlagen. Es ließ sich niemand finden der bereit war, hier am Ende der Welt zu investieren. Die schöne Landschaft um das Dorf alleine reichte offenbar nicht aus. Immer wenn in der Vergangenheit ein möglicher Interessent zu einer Ortsbesichtigung angereist war, bewirkte die Tristesse des Dorfes das der Bürgermeister meist eine freundliche, oft aber

auch eine unhöfliche Absage bekam. Gestern war dies wieder geschehen. Willi Wolter war erst wütend und anschließend ziemlich verzweifelt. Zu dem hatte es dazu geführt, dass er schlecht geschlafen hatte, was seinen Allgemeinzustand durchaus nicht verbesserte. Die Situation des Dorfes, das mittlerweile zu einem Teil seines Lebens geworden war, ging ihm schon an die Nieren. Von den

 

kommenden Ereignissen hatte er noch keinen blassen Schimmer. Zu allem Überfluss hatte nun in der letzten Nacht ein Wasserrohrbruch den Keller mit dem Gemeindearchiv unter Wasser gesetzt. So war die Stimmung des Bürgermeisters nicht mehr zu unterbieten. Selbst seine Sekretärin Maria Meis, die halbe Tage Büroarbeiten im Bürgermeisteramt erledigte und die Protokolle der Gemeinderatssitzungen führte, von allen nur das Mariechen genannt, ging ihm im weiten Bogen an jenem Vormittag aus dem Weg. Die freiwillige Feuerwehr pumpte mit einer altersschwachen Pumpe den Keller leer, was bis zum früher Nachmittag dauerte und einen fürchterlichen Radau verursachte. Ans regieren war jetzt nicht mehr zu denken und so zog sich Willi Wolter völlig entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in den Dorfkrug, der gleich

nebenan lag, zurück. Auch nach dem vierte Pils besserte sich sein Laune kaum. Es gab eh nichts Vernünftiges zu regieren, er verwaltete nur den finanziellen Notstand. Und jetzt das noch. Das Geld würde nicht mal für eine gründliche Renovierung des Archivkellers ausreichen. Der Wirt, Hannes Becker, ein Mitglied des Gemeinderates, setzte sich zu ihm:

„Willi“, sagte er vorsichtig, “nimm es nicht schlimm. Es hätte schlimmer kommen können. Stell die vor, die Bude wäre abgebrannt.“

Wolter, der mittlerweile durch die miese Nacht und den Alkoholgenuss dämmerig guckte, brummte nur:

„Hannes, dann hätte ich wenigstens mal warme Füße bekommen, zumindest für kurze Zeit“. Hannes, zog sich daraufhin hinter seine Theke auf eine sichere Position zurück. Wer weiß, was der Willi heute noch alles drauf hatte.

Nach dem Mittagessen und einem ausgedehnten Mittagsschlaf erschien Wolter dann wieder in seinem muffig feuchten Büro. Die freiwillige Feuerwehr war

 

abgezogen, auf dem Kellerboden schwammen noch kleine Pfützen. Die meisten Akten waren versaut. Die Sammlung der Gesetzblätter und offiziellen Verlautbarungen war stark in Mitleidenschaft gezogen. Wolter hatte seine Sekretärin gebeten, ihm ausnahmsweise am Nachmittag beim Aufräumen zu helfen, was sie nun tat. Sie brachten die Akten, von denen man annehmen konnte, dass sie nach dem Trocknen noch lesbar waren nach oben und lagerten sie im Flur. Der war bald voll und so landeten einige nasse Exemplare auf Wolters Schreibtisch. Dabei fiel vom obersten Stapel aus der durchnässten Gesetzblattsammlung ein gebundenes Exemplar nach unten und landete bei ihm vor den Füssen. Wie das Schicksal es wollte, war es der Vertrag über die deutsche Einheit. Wolter hatte den Band aufgehoben und las die vor ihm zufällig aufgeschlagene Seite gedankenverloren.

 

Das Schicksal ist ja bekanntlich nicht zu regulieren und bereitet uns oft unvermutete Überraschungen. So auch Wolter. Er stieß auf den Satz, den der Beamte Obermaier seinerzeit in Bonn in rachsüchtiger Absicht in den Text hineingedichtet hatte:

Sofern es ein Gemeinde- oder Stadtrat auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mit einfacher Mehrheit beschlit, nnen dort unbeschadet dieses Vertrages einzelne Gesetze oder Bestimmungen der DDR weiter oder wieder angewendet werden

Wolter rieb sich die Augen. Er suchte in dem nassen Papier vorsichtig die letzte Seite. Ja , sie war von allen Zuständigen unterschrieben. Hier gab es keinen Zweifel, das Ding war echt! Er las die Stelle mindesten fünf mal und konnte es nicht glauben. Warum hatte ihm das noch keiner gesagt? Hier ergaben sich ja Möglichkeiten, die man im Traum nicht geahnt hatte! Was konnte man alles daraus machen! Willi Wolter, der ansonsten recht nüchtern dachte, fing an sich auszumalen, was wohl passieren würde, könnte man hieraus den

 

größtmöglichen Nutzen schöpfen! Ihm fiel sogar ein, dass ein römischer Philosoph, er meinte sich an einen namens Seneca zu erinnern, den dringenden Rat parat hatte, sich vom Schicksal nicht mitschleifen zu lassen, sondern an seiner Hand fröhlich mit zuwandern – oder so ähnlich. So jedenfalls hatte er es in der von ihm gehassten Schulstunde in Latein immer von seinem Lehrer gehört, der ein ausgesprochener Fan jenes Philosophen war. Jetzt, lange Jahre danach dämmerte ihm, dass da etwas dran sein könne. Er wusste nicht wie, aber vielleicht konnte man mit der Wiedereinführung einer alten DDR- Vorschrift sogar die Gemeindekasse wieder ganz legal füllen. Ihm wurde bei diesem Gedanken ganz schwindelig, und er begann sich in Gedanken bei seinem Lateinlehrer, der auch unter seinen Streichen zu leiden hatte, ganz

wider seine Natur zu entschuldigen.

 

Er bat das Mariechen, sie solle am nächsten Morgen ein Bügeleisen mitbringen, was diese nicht verstand, aber tat. Und so standen die beiden am nächsten Vormittag im Büro des Bürgermeisters und bügelten jenes bedeutungsschwere nasse Gesetzblatt vorsichtig trocken. Diesen Schatz musste Wolter konservieren. Das Mariechen verstand nichts und hielt ihn für leicht übergeschnappt, führte das aber auf die Katastrophe des letzten Tages zurück. Da er sich aber von seiner freundlichsten Seite zeigte, machte sie keine Bemerkungen und maß dem Ganzen keine weitere Bedeutung zu. Aber, Willi Wolter hatte einen Plan. Und der sollte nicht nur im Dorf sondern auch in der Republik noch für einigen Aufruhr sorgen. Er fand ihn vorher schon genial und bedankte sich, völlig überflüssiger Weise, im Geiste nochmal bei seinem Lateinlehrer, der ihm immer liebenswürdiger wurde. Hätte der geahnt warum, hätte er an einer Welt gezweifelt, die ausgerechnet einen römischen Philosophen, der außerdem seit rund 2000 Jahren tot war, für das vermeintliche Glück einer Gemeinde im damaligen nicht besetzten römischen Territorium im

 

tiefsten Teil des Barbarenlandes, verantwortlich machte. Solche Gedanken wären wiederum dem Bürgermeister jenes Barbarendorfes vor 2000 Jahren aber eher fremd gewesen. Jedenfalls berief der noch am Mittag für den nächsten Vormittag eine außerordentliche Sitzung des Gemeinderates mit höchster Dringlichkeitsstufe ein, der römische Philosoph und sein Verkünder rückten schlagartig wieder in den Hintergrund, nein eigentlich wieder in den tiefen Ablageraum des inneren Hirns.

 

 

 

 

III

 

 

 

Angela Schmied war die Tochter des vor kurzem verschiedenen Landwirts, der den größten Hof des Dorfes Wanderfeld besaß. Er hatte das Land, das eigentlich seit Generationen im Familienbesitz war, nach der Vereinigung wiederbekommen und mit mäßigem Erfolg bewirtschaftet. Seine Tochter hatte keine Lust, den Betrieb weiterzuführen und sich in dem renovierten großen Hofgebäude einige Fremdenzimmer hergerichtet, die sie in Ermangelung anderer Möglichkeiten im Dorf vor allem an Touristen vermietete. Sie war die beste Freundin des Mariechens, die ihr häufig aushalf, die Zimmer in Ordnung zuhalten. Dabei war sie nebenbei auch immer gut über das unterrichtet, was im Bürgermeisteramt so vor sich ging. So auch an diesem Tag, an dem sich im Bürgermeisteramt so merkwürdige Dinge zugetragen hatten. Vor allem war dem Mariechen aufgefallen, dass der Bürgermeister, der eigentlich nicht zu Stimmungsschwankungen neigte, von einem zum anderen Augenblick eine

eigenartige Wandlung durchgemacht hatte und sogar anfing alte Gesetzesblätter zu bügeln. Sie erzählte es ihrer Freundin, die nur brummte.

„Männer sind manchmal so. Das kenne ich!“ wobei sie auf ihren eigenen Gatten Heinz anspielte, dessen Temperament

durchaus wechselhaft war. Angela hatte ihn vor einem Jahr kennengelernt, als er auf einer Wanderung durchs schöne Erzgebirge bei ihr in der Herberge

„hängengeblieben „ war, wie er es ausdrückte. Eigentlich wollte er nur etwas ausspannen, den Geist durch die schöne Landschaft schicken und an nichts Besonderes denken. Dieses Bedürfnis hatte ihn angefallen, nach dem er als angenehme Folge eines familiären Erbschaftsstreits nach dem Tod eines Erbonkels zwar eine siebenstellige Summe und damit seine finanzielle Unabhängigkeit erhalten hatte, aber innerlich noch so aufwühlt war, dass er Abstand brauchte. So verschlug es ihn in eine Gegend, von der er annahm, sie sei einsam genug um seine Probleme ein für alle mal zu vergessen. Er war Junggeselle, 35 Jahre alt und damit gleichaltrig wie Angela, bei der er nach seinem langen letzten Wandertag in Ermangelung eines Hotels im Ort Quartier bezogen hatte. Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Duisburg zurückfahren, von wo er aufgebrochen war. Aber wie das Leben so spielt, stellten er und seine Wirtin bei einem gemeinsamen Bier im Wohnzimmer des Hofes, welches auch als Gaststube dient, am Abend fest, dass eine ungeheure Seelenverwandtschaft zwischen ihnen bestand. Und so kam man ins Gespräch, bis in die Nacht. Nachdem die hinzugezogene Flasche Korn zur Neige ging

und er seine Erbschaft erwähnt hatte, gingen bei Angela die Alarmglocken. Da die Biologie nicht aufzuhalten war und der Grund des Hofes brach lag, bot sich hier die einmalige Chance diese Lage zügig und grundlegend zu ändern. Wozu sind Seelenverwandtschaften den auch sonst da, dachte sich Angela und

steuerte die Angelegenheit in die richtige Richtung. So sorgte sie dafür dass Heinz, man duzte sich natürlich schon, am nächsten Morgen erst einmal richtig ausschlafen konnte. Damit war der Bus weg, der ihn zum Bahnhof in der nahen Kreisstadt hätte bringen sollen. Heinz fand das nicht schlimm. Auch er fand die Aussicht, noch einen Tag mit Angela verbringen zu können, durchaus reizvoll. Und so kam es, wie es kommen musste, aus Tagen wurden Wochen. Er blieb

 

also bei ihr hängen. Zudem fand er die Möglichkeit reizvoll, einen großen Teil seines Kapitals in den Aufbau einer Hühnerzucht mit Legebatterien, allerdings auf streng biologischer Basis, d.h. artgerechter Haltung der Hühner, auf Angelas Hof zu investieren. So was gab es in der Gegend noch nicht und er dachte ganz richtig, dass sich das lohnen könnte. Die Frage der Besitzverhältnisse wurden dann auch nach vier Monaten durch eine Hochzeit geklärt. Da Angelas Familie jeher in Wanderfeld angesiedelt war, hatte sie das halbe Dorf zu Hochzeit eingeladen. Das diente der erforderlichen Integration von Heinz ungemein. Er hatte die Möglichkeiten genutzt, wie im Ruhrpott gelernt, unter den meisten männlichen Dorfbewohnern ausgiebig nach neuen Kumpel Ausschau zu halten. Schließlich war Integration immer eine zweiseitige Angelegenheit, die man am besten mit einer guten Flasche Korn und ein paar Pils beförderte. Es war ihm in den meisten Fällen gut gelungen, was den späteren Werdegang der Ereignisse durchaus positiv beeinflussen sollte.

Zur Zeit als die merkwürdigen Ereignisse im Bürgermeisteramt vermeldet wurden, wartete er bereits auf diverse Genehmigungen des Kreisveterinäramtes und sonstiger Behörden, die einem Firmengründer das Leben durchaus schwer machen konnten. Es fehlten immer mal hier oder da ein Nachweis oder eine Bescheinigung. Es dauerte. Die Behörden ließen ihn hängen, das Personal war knapp und man hatte für manche Frage noch Rückfragen Höherenorts zu tätigen. Da ließ man sich noch mehr Zeit. Dummerweise hatte man dort im Verfahren den Hühnerzüchterverband beteiligt, was der Sache nicht zuträglich war. Konkurrenz, die möglicherweise billiger war, konnte man nicht brauchen, also ließ man die Sache ruhen, solange es ging. Das würde sich aber später als Bumerang herausstellen, was aber noch keiner ahnen konnte. So grantelte

Heinz herum und ging ab und zu seiner Angela auf den Senkel, was er dann mit

 

tätiger Reue mit eigens für solche Fälle gebunkertem französischen Champagner gutzumachen versuchte. Das war auch am Abend des Wasserrohrbruches im Bürgermeisteramt geschehen und am Tage ,“als die Gesetzblätter gebügelt wurden“, schien die Welt im Hause Schmied kurzfristig wieder in Ordnung. Ja man hieß Schmied! In einem Anfall besonderer Großzügigkeit hatte sich Heinz hinreißen lassen, seinen schönen Namen Höhnerleitner zu vereinfachen. Außerdem mochte er ihn nicht. Damit kam er auch seinen Nachbarn entgegen, die seinen Namen ohnehin nie richtig aussprachen oder ihn absichtlich verdrehten. Einer hatte ihn sogar

„Hühnerreiter“ genannt. So hatte er eben eine einfache Lösung seiner Namensprobleme gefunden, was hier Allen entgegenkam. Auch Angela hatte riesige Hochachtung davor, so was hatte es im Dorf noch nie gegeben. Sie sonnte sich in ihrem einmaligen Status, auch wenn an der Theke des Dorfkruges die Meinung geäußert wurde, hier wäre einer schon bei der Hochzeit „unter den Teppich gekrochen“, was normalerweise erst nach Jahren geschehen könne, wenn überhaupt! Der Wirt und Besitzer des Dorfkruges Hannes meinte dann sachkundig, um den Effekt zu verstärken. „Wie hört sich das an: Schmied, geborener Hühnerreiter!“ Das brachte ihm zwar das Johlen der Anwesenden ein, verpuffte aber auf Dauer, da es die beiden nicht anfocht. Sie lebten zum Erstaunen der Kritiker trotz dieser Ungeheuerlichkeit

harmonisch zusammen. Seelenverwandtschaft war im Dorf eben auch eine eher neue Erscheinung und nicht üblich, jedenfalls nicht öffentlich.

Am späten Nachmittag fand dann die außerordentliche Sitzung des Gemeinderates statt. Das Mariechen führte wie immer das Protokoll. Willi Wolter verkündete den erstaunten Mitgliedern, welche Erkenntnisse der Wasserrohrbruch im Keller des Bürgermeisteramtes bei ihm hinterlassen hatte. Allerdings ohne die Erwähnung seiner Erleuchtung durch den römischen

 

Philosophen. Das wäre nicht gut gekommen, ab dem Punkt hätte er befürchten müssten, dass man ihn für durchgeknallt erklären würde. So was war im Dorf nicht üblich. Nur der Lehrer oder Pastor durften sich das leisten, aber denen hörte man ohnehin nur sehr selektiv zu. Hannes Becker, der nicht nur Wirt des Dorfkruges war, sondern auch seit Ende der DDR im Gemeinderat saß, grinste breit. Er malte sich schon die Wiederkehr der alten Zeit aus, in der mit seiner opportunistischen Art eigentlich ganz gut gelebt hatte. Irgendwie war er Chef in seiner Kneipe geblieben und hatte sich ganz gut durchgemogelt, ohne irgendwie anzuecken. Von ihm aus konnten einige Dinge wieder kommen, er würde jetzt noch besser dran verdienen. Er fragte deswegen

„was hast du denn jetzt speziell vor, Willi?“

 

Willi der Bürgermeister gab zu, dass ihm noch nichts Rechtes eingefallen war, wie man die Situation des Dorfes mit altem DDR-Recht verbessern konnte. Er bat die Anwesenden sich darüber Gedanken zu machen, aber auf jeden Fall erst mal Stillschweigen im Dorf zu bewahren. Da Willi Wolter wusste, dass man diese Mahnung genauso gut auch an das Brett für „Öffentliche Verlautbarungen“ hätte hängen können, hoffte er damit auf eine irgendwie gute und brauchbare Rückmeldung aus dem Dorf, die auch kommen sollte. Es

wurde an diesem Abend viel diskutiert und mit steigendem Bierverbrauch – die Sitzung fand wie immer im Hinterzimmer des Dorfkruges statt – wurden die Vorschläge immer skurriler. Isa Maier, seit langen Mitglied der Gemeinderates, schlug vor, ab sofort wieder einen „Subbotnik“ einzuführen. Dieser mehr gezwungene „freiwillige“ Nachbarschaftseinsatz, der im Dorf praktischerweise in Ermangelung von Kehrmaschinen immer zur Reinigung der Straßen benutzt wurde, war von Lenin erfunden und in die DDR exportiert worden. Ihr war die neuerliche Einführung deshalb ein Bedürfnis, weil ihr Nachbar, ein alter Griesgram, dem die Sauberkeit der Straße völlig egal war, sich nie an der eigentlich verpflichtenden Reinigung seines Straßenabschnitts beteiligte. Isa

 

hatte im Winter am frühen Morgen im Dunkeln beim Verlassen des Hauses vor seinem Straßenabschnitt in einen Kuhfladen getreten, da er wieder nicht sauber gemacht hatte. Sie war sauer, wegen der neuen Schuhe, die danach nicht mehr so richtig neu waren. Sie sann auf Rache, bekam sie aber auch jetzt nicht. Keiner in der Versammlung zog mit. Erstens wollte keiner umsonst für andere arbeiten und zweitens war soviel realer Sozialismus dann doch zu viel. Außerdem diente der Vorschlag keineswegs der Verbesserung des Zustands der Dorfkasse.

Hannes, der Wirt, träumte von einer sozialistischen Neubenennung seiner Kneipe. Er war zu Zeiten der DDR mal in der „Hauptstadt“ gewesen und im „Gastmahl des Meeres“, einer volkseigenen Fischgaststätte, anlässlich einer Tagung von der Partei eingeladen worden. Der Name imponierte ihm mächtig. Er hörte sich irgendwie international an. Er dachte sich, mit so einem bedeutungsschwangeren Namen könne er seinen „Dorfkrug“ etwas adeln, zu Essen gab es ja bei ihm ja schließlich auch was. Nach dem Konsum einiger weiteren Biere und geleitender Schnäpse, äußerte er die Idee, seine Kneipe mit dem Namen „ Gastmahl des Volkes“ in den Rang einer erstklassigen Gaststätte zu erheben. Er fand es großartig und bekam bei seinem Vortrag fast feuchte Augen. Erst guckten sie alle verdutzt. Auf so was genial beklopptes wäre

keiner der Anwesenden gekommen. Vorsichtig, man durfte den amtierenden Dorfwirt nicht ohne weiteres kränken, dies hätte sich bei ihm sehr nachteilig auf die hin und wieder geübte Praxis von Freibier und -schnaps während der Gemeinderatssitzungen auswirken können, bemerkte daher einer geschickt, dass dies sich doch möglicherweise nachteilig auf ortsfremde Gäste auswirken könne. Da er seinen Satz mit den Worten begann: „Ich würde meinen wollen…“, tobten sie alle los: „Was meinst du zu wollen oder zu meinen, ha, ha, ha“.

Die Versammlung kriegte sich nicht mehr ein über diese kunstvolle Gedankenleistung. Diese Art von vergewaltigter Sprache war nicht nur bemerkenswert bescheuert, sondern hatte sogar einen gewissen Unterhaltungswert – zumindest im Dorfkrug nach dem Genuss der frei verfügbaren Alkoholika. Man war ja nicht im Parlament oder gar in einer oberen Behörde. Der Bürgermeister dachte jedoch bei sich:

“Hier ist tatsächlich ein richtiger Politiker unter uns. Wie gut, dass es keiner gemerkt hat. So einer hat ungeheures Potential und das kann ich jetzt nicht brauchen.“

Der Vorschlag ging jedenfalls unter, was den Hannes sehr betrübte. Er ließ aber ungeachtet seiner Niederlage und zur Beruhigung seiner Mitpolitiker eine neue Flasche Korn auffahren.

Als auch noch einer vorschlug, man könne doch schon mal den Namen des Gemeinderats in „ZK-Komitee Wanderfeld“ ändern, das sei schließlich schon mal ein Anfang, beendete Willi vorsichtshalber den offiziellen Teil der Versammlung. Er wies die Protokollführerin „Frau Meis“ formal an, diese Vorschläge nicht ins Protokoll zu schreiben und das Ende der Sitzung zu vermerken. Er wollte die Vergangenheit nicht wieder lebendig machen, sondern schlicht Vorteile für die Gemeinde herausholen. Es schien ihm aber nicht gelungen und so verließ er gedankenverloren die Sitzung.

 

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