Nicole Zeitler / Auf Abwegen / Leseprobe

Exposé

 


Das Leben des Mittfünfzigers Dale Stanford ist eintönig. Er schreibt für die Zeitung seines
Freundes Theaterkritiken und verschiedene Reportagen, privat ergibt sich für ihn seit Jahren
nichts außer zahlreiche Affären mit Frauen, die ihm nichts bedeuten. Eines Abends sieht er
auf einer Theaterbühne eine Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht – die erste, die er
wirklich näher kennenlernen will. Er spürt, dass das mit dieser Person eine ganz besondere
Verbindung möglich ist und will sie unbedingt treffen. Gerade, als er sich daran macht, den
Kontakt zu der Fremden zu suchen, stellt ihm sein Bruder Robert dessen zukünftige Frau vor:
Susannah – eine Fotografin mit  eigener Galerie.  Mit Schrecken erkennt Dale,  dass dies die
Frau vom Theater  ist  und versucht zunächst,  seine Gefühle zu verbergen. Als er  sich aus
lauter Frust in einen selbst gefährdenden Alkoholexzess flüchtet, dadurch seinen Job verliert
und im Krankenhaus landet, bietet ihm sein Bruder an, ihn übergangsweise in seinem Haus
aufzunehmen, damit er sich als Schriftsteller etablieren kann. Zeitgleich heiraten Robert und
Susannah.  Dale,  der  anfangs  aufrichtig versucht,  diese  Hochzeit  zu akzeptieren,  stellt  im
Laufe der Zeit  fest,  dass dies immer  schwieriger  wird, denn seine Gefühle werden immer
stärker.  Während der Hochzeitsreise des Paares versucht er sich mit  dem Schreiben seines
Buches,  Aufenthalten in der  Natur und dem Treffen vergangener  Liebschaften von seinen
trüben  Gedanken abzulenken.  Leider  gelingt  ihm dies  nicht  richtig,  so dass  er  trotzdem
ständig an seine verlorene Liebe denken muss. Auch, was den Alkoholentzug anbelangt, hat
er ein Problem:  Nur haarscharf entgeht er nach einem aufwühlenden Telefonat  mit  seinem
Bruder  einem Rückfall.  Als  das  Paar  von der  Reise  zurückkehrt,  spürt  Dale,  dass  etwas
vorgefallen sein muss – zu befangen verhält sich Susannah ihrem Mann gegenüber. In einem
gemeinsamen Gespräch während einer Golfpartie vertraut sie ihm schließlich an, dass Robert
und  sie  sich  in  der  Vergangenheit  bereits  mehrmals  nicht  unerheblich  gestritten  haben.
Trotzdem hofft sie aber, das Problem gemeinsam mit ihrem Mann in den Griff zu bekommen
und schreibt ihm einen persönlichen Brief, den sie auf dem Sekretär im Schlafzimmer liegen
lässt. Dale liest diesen Brief heimlich und erfährt dadurch die Ursache ihrer Probleme: Robert
fordert von seiner Frau eine baldige Aufgabe der Galerie und Familiengründung, was sie ihm
aber  (noch) nicht geben kann und will.  Dies sorgt für Spannungen in der  Beziehung. Da
Robert  nun  auch  noch  unerwartet  einen  sehr  aufwändigen  Rechtsfall  zu  bearbeiten  hat,
entwickelt  sich Dale nun immer mehr zu Susannahs Vertrauten und Helfer in der Not.  Sie
unternehmen häufiger etwas zusammen und genießen das Beisammensein. Als Dale seinen
alten Bekannten Sky in einer Buchhandlung trifft und von diesem erfährt, dass dieser in seiner
Ehe aktiv und ohne fremdes Gewissen fremd geht, beschließt er, Susannah trotz ihrer Heirat
mit seinem Bruder endlich für sich zu gewinnen. Eine gute Gelegenheit bietet sich, als dieser
nach  einem Streit  mit  seiner  Frau  ein  Versöhnungsessen  plant  und  Dale  dessen  Anrufe
sabotiert,  damit  Susannah  nichts  davon  erfährt.  Die  beiden  verbringen  stattdessen  einen
vergnügten Abend in einem Jazzclub, bei dem es auch zu einem ersten Körperkontakt kommt.
Robert ist am nächsten Tag erbost über Dales Verhalten und beschuldigt ihn, sich bewusst an
seine Frau heranmachen zu wollen. Robert aber leugnet dies so glaubhaft,  dass Robert sich
dafür am Ende zwar entschuldigt, aber dennoch misstrauisch bleibt. Die Situation spitzt sich
zu,  als  Dale  für  Robert  einspringen muss,  um Susannah für  die  Vorbereitung einer  sehr
wichtigen Vernissage in ihrer Galerie zu helfen. Da Robert beruflich verhindert ist, kann er
dies nicht wie versprochen leisten und zieht daher den Groll seiner Frau noch mehr auf sich.
Für Dales Pläne hingegen erweist sich die Situation als günstig: So kann er ungehindert noch
mehr  Zeit  mit  seiner  Angebeteten  verbringen.  Die  beiden  bereiten  jetzt  gemeinsam mit
Susannahs  Assistentin  Isabell  die  Ausstellung  vor  und  wachsen  noch  enger  zusammen.
Schließlich kommt  es  soweit,  dass  Susannah an ihren Gefühlen für  Robert  zweifelt.  Am
Abend der Vernissage platzt dieser betrunken in Susannahs Eröffnungsrede und stellt sie vor
allen Gästen bloß.  In  der  Eingangshalle  kommt  es  dann zu einem finalen Streit,  in dem
Susannah ihrem Mann damit droht, die Beziehung zu beenden. Sie einigen sich darauf, dies
zuhause noch einmal  in Ruhe zu besprechen. Robert  verlässt  die Vernissage in bedrückter
Stimmung. Das ist  der Augenblick, in dem Dale seine Chance sieht.  Er gesteht Susannah
seine Gefühle  und stellt  fest,  dass  auch er  ihr  mittlerweile  nicht  gleichgültig ist  und sie
unsicher ist, wie sie weiter mit der Situation verfahren soll. In einem unachtsamen Moment
geben sich die beiden ihrer  Leidenschaft  hin. Da kommt  Robert  noch einmal  zurück und
erblickt das Paar. Er verprügelt Dale und stürzt sich in tiefer Verzweiflung in seinen Wagen,
um sich das  Leben zu nehmen.  Erst  jetzt  erkennen Susannah und Dale ihren Fehler  und
nehmen die Verfolgung auf. Sie landen auf einer Klippe am Meer, von der sich Dales Bruder
stürzen will. Im letzten Moment kann der Selbstmord verhindert werden. Dale erkennt, dass
er  seinen Bruder  über  alles  liebt  und verzichtet  deshalb endgültig auf  seine große Liebe
Susannah. Einander zugewandt verabschieden sie sich voneinander.  Dale verlässt  die Stadt
und Susannah widmet sich nun wieder von ganzem Herzen der verloren geglaubten Ehe und
dem Genesungsprozess ihres Mannes.  

 

 

 

Leseprobe

 


Ich sah sie das erste Mal bei einer Theateraufführung. Langbeinig, schlank, mit gepflegten braunen
Haaren bis zu den Schultern, spielte sie die stumme Katrin in „Mutter Courage und ihre Kinder“.
Dass man ihre Stimme nicht hörte, störte nicht, denn ihre Augen sprachen Bände: In ihnen lag die
Sehnsucht  einer  jungen  Frau  nach  Liebe,  Vollkommenheit  und  der  Schönheit  der  göttlichen
Schöpfung. Gerade deswegen gelang es ihr wohl, die Zuschauer zu verzaubern, einschließlich mich,
den vom Leben gelangweilten Theaterkritiker. Obwohl ich schon viele junge Talente gesehen hatte
und dies für mich auch nichts Besonderes mehr war, war ich vom ersten Augenblick an von ihrer
Aura  beeindruckt.  Man  merkte,  dass  sie  ihre  Rolle  liebte  –  die  eindringlichen  Gesten,  zarten
Bewegungen und die Leichtfüßigkeit, mit der sie über die Bühne glitt – das alles war stimmig. Ich
hatte weiß Gott schon viele gesehen, die eine Rolle spielten. Sie aber  war die Rolle. Nur schwer
konnte ich mich nun gegen die Faszination wehren, die diese Frau so unerwartet auf mich ausübte.
Sie war  etwas  Besonders,  das  spürte ich.  Neben ihr  wirkten die anderen Schauspieler  fast  wie
farblose Kopien. Überrascht stellte ich nach gut einer Stunde fest,  dass sich nasser Schweiß auf
meiner Hand gebildet hatte, der – so oft ich ihn auch an der Hose abwischte – sofort wieder da war.
Was war nur los mit mir? Ich hatte schließlich auch auf andere Schauspieler zu achten, nicht nur auf
sie.  Ungeachtet  dessen schenkte  ich ihr  aber  trotzdem meine  volle  Aufmerksamkeit.  Verfolgte
Szenen  mit  ihr  intensiver  als  andere,  erinnerte  mich  an sie,  wenn sie  in einer  Sequenz  nicht
mitspielte und fühlte mich auf seltsame Weise von ihrer Gegenwart befangen. Diese Frau sprach auf
der Bühne nur wenig und doch sagte sie alles, ja sprach mich an. Mich ganz persönlich. Allein die
Möglichkeit,  sie  vielleicht  im wahren  Leben  kennen  lernen  zu  dürfen  –  etwa  während  eines
zufälligen Interviews nach der Aufführung – machte mich nervös. Der Block auf meinen Füßen –
sonst immer Gegenstand nervöser Kritzeleien  – lag still; der Stift verharrte bewegungslos. Notizen
waren wichtig für meine berufliche Arbeit,  doch in diesem Moment  hätten sie unwichtiger nicht
sein können. Ich konnte und wollte mich dieser magischen Kraft nicht entziehen, die diese Frau so
unerwartet auf mich ausübte. Meine Augen verfolgten sie starr bei jedem Schritt, den sie tat und ein
absurdes  Gefühl  der  – konnte  es  Zuneigung sein?  –  gaukelte  mir  vor,  alleine  in den dunklen
Publikumsreihen zu sitzen. Sie zu sehen, wie sie im Scheinwerferlicht spielte. Sie zu beobachten.
Ihren Körper. Ihre Leichtigkeit. Als die Aufführung schließlich endete, war mein Block nicht mehr
beschrieben als am Anfang.  Tosender Applaus riss mich aus meiner Trance. Als sich die Massen
rechts und links um mich herum erhoben, tat ich es ihnen gleich und klatschte ebenfalls, bis mir die
Handflächen  wehtaten.  Ich  applaudierte,  als  müsse  ich  ihr  beweisen,  dass  sie  die  Beste  war.
Vielleicht auch, um sie zu belohnen oder aber mich aus dem Publikum hervorzuheben, ich wusste es
nicht.  Dies tat  ich länger als alle anderen. Bis das Licht anging und sie mich ansah – nur einen
kurzen aber  sehr intensiven Augenblick – nur  um dann hinter  dem sich senkenden Vorhang zu
verschwinden. Zurück blieb ein einigermaßen verwirrter Mann zwischen verlassenen Stuhlreihen
eines Theaters.
Als ich an diesem Abend in Gedanken versunken nach Hause schlenderte, war ich nicht in der Lage,
zu vergessen.  Immer  wieder  erschien sie vor meinem geistigen Augen:  Weiche,  granatapfelrote
Lippen, die sich nur manchmal zu einem Lächeln verzogen, volle Wimpern, die zarte Rundung ihrer
Brüste unter einem billigen, mit  Blumen bedruckten Stoffoberteil.  Die Grazie ihrer Bewegungen,
diese beschwingte Fröhlichkeit in ihrer Mimik. Alles an dieser Frau war wunderbar und ich wusste
nicht einmal ihren Namen. Bestimmt klang er rund wie ein vollmundiger Wein, den man bedächtig
an einem lauen Sommerabend trank. Ich musste sie wieder sehen.  Doch was sollte ich ihr sagen?
Vielleicht war sie verheiratet. Hatte Kinder. Ein geregeltes Leben. Und ich? Wie passte ich dazu?
Alleine; vom Leben müde und ungeordnet wie ein lästiger Stapel Altpapier auf einem Schreibtisch.
Kopfschüttelnd erklomm ich die Stufen zu meiner Behausung im Dachgeschoss eines baufälligen
Hauses. Als ich die Tür aufschloss und meine Wohnung betrat, vernahm ich das vertraute Knarren
der Dielen, die bei jedem Schritt aufseufzten. Alles war seit Jahren so gleich und vorhersehbar. Und
jetzt – von einem Augenblick zum anderen –  plötzlich nicht mehr. Denn ich fühlte etwas. Etwas,
was ich bis dahin nicht mehr gekannt hatte. Eine Aufregung; eine Wärme von der ich mich wie von
einem längst  vergessenen Freund schon seit  Jahrzehnten verabschiedet  hatte.  Die Intensität  eines
Gedankens, der sich wie ein Stachel in mein Gedächtnis bohrte. Ich konnte es immer noch nicht
glauben, schüttelte zweifelnd den Kopf. Nach nur einer Begegnung konnte man doch gar nichts
sagen. Ich hatte schließlich nicht einmal mit ihr gesprochen. Das machte keinen Sinn. Trotzdem saß
ich in meinem Sessel, lauschte der Stille und sah sie immer wieder vor mir. Und dann hielt ich sie
plötzlich in den Armen; roch den Duft ihres Haares,  küsste ihre Stirn. Ich wusste,  das alles war
Illusion und würde niemals eintreten – und doch konnte nicht anders und gab mich nur ein paar
Momente  dieser  Lächerlichkeit  hin.  Und immer  wieder  erschien dieser  letzte  Augenblick:  Ihre
tiefgründigen Augen. Der Wunsch nach mehr. Der Vorhang. Cut. Und wieder sie. Ihre Augen. Der
Vorhang.  Cut.  Und  dann,  nachdem ich  diesen  einen  Gedanken  unzählige  Male  gedacht  hatte,
wurden auch endlich meine Lider schwer und ich legte mich hin, um zu ruhen.
Warme Sonnenstrahlen weckten mich –  gepaart  mit  dem satten Duft  frischer  Brötchen aus  der
Bäckerei neben meinem Haus – in einen neuen Tag. Meine italienischen Nachbarn waren – intensiv
und lautstark wie jeden Morgen – bereits voll in ihrem Element. Man hörte Geschirr klappern, das
Kreischen eines kleinen Jungen, die mahnende Stimme einer Mutter. Dann Schweigen, eine Tür fiel
ins Schloss, das Plätschern einer Dusche. Offensichtlich war der Mann in die Arbeit gegangen. Da
mein  Fenster  häufig  gekippt  war,  nahm  ich  schon  seit  Jahren  lebhaft  am  Alltag  dieser
Nachbarsfamilie teil.  Unbeeindruckt davon behielt  ich an diesem Morgen die Augen geschlossen
und wartete.  Wartete,  dass das Gefühl der Verliebtheit,  das mich seit  gestern wie ein verrücktes
Fieber befallen hatte,  verging. Was war geschehen? Nichts.  Nichts war geschehen. Nur Fantasie,
Wunsch und die verqueren Gedanken eines alten Trottels. Ich öffnete meine Augen. Meine rechte
Hand hob  sich,  zeichnete  Konturen in  den  Raum.  Ihre  Konturen.  Wie  lange  hatte  ich  darauf
gewartet, so etwas fühlen zu können. War das Liebe? Oder Wahnsinn? Ich kannte sie nicht, war ein
Realist, und doch… Nein, ich hatte nur geträumt. Eine Illusion, ein Wunsch, mehr nicht. Eine Weile
verging. Dann drehte ich den Kopf, sah den leeren Notizblock auf dem Sessel und  wusste es besser.
Schwerfällig erhob ich mich aus meinem Bett  und wankte – träge wie ein 70-Jähriger – ins Bad.
Eiskaltes Wasser prasselte auf meine Haut und holte meine Lebensgeister zurück. Es fühlte sich gut
an, das Wasser auf der Haut. Vielleicht wischte es ja die Erinnerung weg. Eine Stunde später fand
ich mich auf den belebten, in der Hitze der Sonne stinkenden Straßen einer großen Stadt wieder. Der
Strom der Menge dort trieb meinen Körper voran und während ich das geschehen lies, erhoffte ich
mir, vielleicht durch einen glücklichen Zufall, sie unter all den ausdruckslosen Gesichtern zu sehen,
doch diese Gnade blieb mir verwehrt. Sie war nur Erinnerung. Vielleicht Sehnsucht, ein bisschen
Gefühl – nicht mehr. Vor einem Schaufenster stockte ich. Dort betrachtete ich weniger die Uhren
dahinter als vielmehr mein blasses Gesicht.  Tiefe Furchen gruben sich in meine Wangen, graues,
stoppeliges Haar umrahmte mein Gesicht, doch meine Augen hatten immer noch das alte Feuer, das
sie bereits zu Jugendzeiten besessen hatten. Fast musste ich lachen. Ich war noch nicht alt. 53. Kein
alter  Mann also.  Aber  konnte sich eine junge Frau wie sie denn überhaupt  noch für  so einen
interessieren?  Hatte sie  auch nur  einen kurzen Moment  über  mich nachgedacht,  nachdem sich
unsere Blicke getroffen hatten? Wer war sie? Und wo war sie jetzt? Wieso zur Hölle interessierte
mich das überhaupt? Ich lachte auf. Mein Gott, ich war zu alt für solche Schwärmereien! Viel zu alt.
Mein Blick streifte die Uhr. Es war bereits Mittag. Um 12.30 Uhr hatte ich mich mit meinem Bruder
in einem Restaurant verabredet, weil er mir seine zukünftige Frau vorstellen wollte. Ich hatte jetzt
keinen  Kopf  dafür,  aber  es  war  nötig.  Robert  war  mir  wichtig  und  wir  beide  immer  schon
vielbeschäftigte Männer.  Ich mit  meinen ewigen Reportagen, er  der  Anwalt.  Lange Zeit  war  er
alleine gewesen und hatte sich in seine Arbeit gestürzt. Bis er auf seine jetzige Verlobte Susannah
traf.  Diesmal  hatte  es  ihn wirklich erwischt,  das  wusste ich.  Von Anfang an hatte er  mir  jede
Sekunde dieses allerersten Treffens erzählt, war dann aber erst einmal für längere Zeit aus meinem
Leben verschwunden. Vorbei die langen Dienstagabende in unserer verrauchten Stammkneipe, die
uns für politische Diskussionen bei einem gemütlichen Glas Bier gerade gut genug gewesen war. So
schnell  vorbei  wie sie gekommen waren. Zunächst  fühlte ich mich als Bruder tatsächlich etwas
vernachlässigt, dann aber freute ich mich für ihn, denn er hatte sich ja immer schon etwas Festes zur
Familiengründung gewünscht. Glücklicherweise war er nicht so ein Typ wie ich, der nicht wusste,
wo er eigentlich hingehörte. Der zahlreiche Affären hatte und die Anzahl der Frauen, die mit ihm die
Betten geteilt hatten, gar nicht mehr benennen konnte. Robert war ernsthaft und das war gut so. So
gut, dass es schließlich kam, wie es kommen musste. Obwohl erst sechs Monate mit ihr zusammen,
hatte er nun schon um ihre Hand geworben und würde sie heiraten. Sie war eben seine Traumfrau:
Jung, hübsch, intelligent, selbstbewusst und äußerst gewillt, sich mit ihm eine gemeinsame Zukunft
aufzubauen. Ich – der ewige Einzelkämpfer – konnte mit  so etwas nichts anfangen. Es war mir
einfach  nicht  bestimmt  –  so  einfach  war  das.  Die  chaotische  Ehe  unserer  Eltern  hatte  mich
abgeschreckt,  so wie sie Robert  bestärkt  hatte.  Wie oft  hatten wir  uns als  Kinder  im Schrank
versteckt, als sie sich immer wieder anschrien und mit Türen schlugen. Am Ende war es immer das
Gleiche gewesen: Mutter saß heulend in der Küche und Vater betrank sich in der Kneipe. Jetzt gab
es keinen Kontakt mehr. Meine Mutter lebte ihr Leben; mein Vater war tot. Nein, ich konnte keine
Beziehung haben. Niemals. Und doch: Ich wollte die Frau aus dem Theater unbedingt wieder sehen.
Eine  halbe  Stunde  später  schritt  ich  ehrfurchtsvoll  durch  die  pompöse  Eingangshalle  des
Restaurants, in dem wir uns verabredet hatten. Süßlicher Geruch lag in der Luft. Urheber schien ein
etwa 60-jähriger, mittelgroßer  Mann mit streng aus dem Gesicht gegeltem Haar zu sein, der mit
konzentrierter  Miene an einer  der  Marmorsäulen lehnte und auf  jemanden zu warten schien. In
seinem Mund steckte eine Pfeife,  an der  er  genüsslich zog. Als sich unsere Blicke begegneten,
drehte ich den Kopf in die andere  Richtung – ich wollte nicht,  dass  er  dachte,  ich würde ihn
beobachten. Als ich das Restaurant betrat, wurde ich sofort von einem jungen Ober empfangen. Er
wies  mir  den bereits  reservierten Tisch zu und folgte  jedem meiner  Schritte  mit  einer  kühlen
Höflichkeit. Um ihn loszuwerden, bedankte ich mich nickend und bestellte einen Martini. Während
ich nun auf Robert und seine Verlobte wartete, spielten meine Hände nervös mit einem Zahnstocher.
Ein unangenehmer  Stich in den Magen durchfuhr  mich, als mir  ohne Vorwarnung plötzlich die
Theaterkritik, die ich heute noch zu schreiben hatte, in den Sinn kam. Ohne Notizen würde sich das
ein klein wenig schwierig gestalten.  Wieder  einmal  war  ich also gezwungen,  zu improvisieren.
Meine Gedanken glitten ab. Wieder hin zu ihr.  Und da war sie auch schon. Auf der Bühne.  Ihre
unnachahmliche Präsenz. Ein sehr viel schönerer Gedanke als der über meine Arbeit. Ich entschied,
etwas Konkretes tun zu müssen, um sie kennenzulernen: Gleich nach dem Essen würde ich zum
Theater gehen und ihre Adresse herausfinden. Als Journalist dürfte mir das nicht besonders schwer
fallen. Ich schüttelte den Kopf. Im Moment erkannte ich mich selbst nicht wieder: Das hatte bis jetzt
noch nie für eine Frau getan. Bisher waren sie schließlich immer nur  mir hinterher gerannt. Hier
aber würde es anders sein, das spürte ich. Von dieser Frau würde nichts kommen. Also war ich
gefordert, über meinen Schatten zu springen. Wer wusste es schon – vielleicht lohnte es sich ja. Um
die Zeit bis zum Eintreffen des Paares zu vertreiben, hing ich noch ein wenig meinen Gedanken
nach und formulierte Satzfetzen für die spätere Kritik,  die nun ad hoc zu schreiben war.  Dann
endlich tauchte Roberts vertrautes Gesicht am Eingang auf. Wie immer verband er Sportlichkeit mit
männlichem Chic:  Seine  Blue  Jeans  passten  perfekt  zum cremefarbenen  Pullover  auf  seinem
schlanken und sportlichen Körper. Kurz tauschte er noch ein paar kurze Worte mit einem Mann in
Anzug und Krawatte aus, nickte dann freundlich zum Abschied und schlenderte auf mich zu. „Hallo
Dale, schön, dass es jetzt endlich mal geklappt hat!“, begrüßte er mich und klopfte sanft auf meine
Schulter.  Das Strahlen in seinen marineblauen Augen war nicht zu übersehen: Es ging ihm gut;
wenn nicht  so gar  blendend.  Fast  beneidete  ich  ihn.  Er wusste,  worauf  es  im Leben ankam.
Genügend Geld, ein eigenes Haus; ein Hauch von Liebe; gute Freunde. Ich hingegen besaß nur eine
billige Wohnung, schmutzige Storys und gelegentliche Liebschaften, die mich tagein, tagaus vom
tristen Dasein meines Lebens ablenkten. Aber: Das war nun einmal die Rolle, die das Schicksal, das
große Ganze oder was auch immer, mir zugewiesen hatte und die spielte ich gut – verdammt gut
sogar.  Die Damen jedenfalls hatten sich jedenfalls nie beschwert.  Das änderte aber trotzdem gar
nichts daran, dass Robert und ich uns gut verstanden. Vielleicht bestärkte es mich sogar in meiner
Lebensweise, zu wissen, wie es anders sein konnte. Dieses geordnete Leben, das er führte, empfand
ich auch oft genug als langweilig und spießig. Und es war mir höchst zuwider, als langweilig und
spießig gelten zu sollen. „Sag mal, hast du Hunger?“, wollte Robert wissen und überflog die Karte
des Restaurants. „Ich weiß noch nicht…“, antwortete ich. „Irgendwie ist mir nicht so nach Essen.“
Als der Ober herankam,  bestellte mein Bruder ein Glas Merlot  und seiner Verlobten ein Wasser.
„Was nimmst du?“ „Ein Pils“, antwortete ich und beugte mich erwartungsvoll nach vorne. „So – und
heute lerne ich sie also endlich kennen: Die Frau, die meinen Bruder nun schon seit geraumer Zeit
von mir fernhält…“ „Tja, tut mir leid Dale“, grinste er verlegen. „Aber du weißt ja: Diesmal hat es
mich wirklich voll erwischt. Deswegen muss ich sie ja auch heiraten. Sie ist die Richtige für mich –
das spüre ich einfach.“ Mit glühendem Gesicht sah er immer wieder zum Eingang, wo sie gleich
auftauchen würde. „Ich bin schon so gespannt, was du von ihr hältst!“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Das bin ich auch…“, antwortete ich und zündete mir eine Kippe an. Amüsiert betrachtete ich ihn:
Er war wirklich kaum wieder zu erkennen. Strahlend wie ein Honigkuchenpferd,  locker und gelöst
und nicht so angespannt wie früher – einfach alles an ihm verströmte den fantastischen Sex, den er
wohl mit ihr haben musste. Ein klein wenig neidisch war ich da schon obwohl ich mich natürlich
für ihn freute.  Um halbwegs mithalten zu können, beschloss ich, ihm von meinem Erlebnis im
Theater zu berichten. „Stell dir vor, gestern Abend war ich im Lighthouse Theatre um eine Kritik zu
schreiben…“ „Wirklich…?“, fragte er interessiert. „Das bist du ja öfter. Und?“ „Nun, ich habe dort
eine Frau gesehen…“ „So so, du hast eine Frau gesehen. Mal etwas ganz Neues! Und? Gefällt sie
dir  etwa?“  Erwartungsvoll  lehnte  er  sich  zurück.  „Vielleicht…“,  antwortete  ich  nachdenklich.
„Zumindest denke ich an sie.“ „Und wer ist sie?“ „Eine Schauspielerin“, antwortete ich und blies
den Rauch durch die Nase. „Was genau hat Dich an ihr so beeindruckt?“ Ich überlegte. „Gute Frage.
Ich weiß nicht. Vielleicht ihre Art zu spielen, ihr Aussehen, ihre ganze Erscheinung?“ „Wie heißt
sie?“ „Keine Ahnung. Aber das werde ich später herausfinden.“ „Du gehst also noch einmal hin?“
„Nach unserem Treffen, ja.“ Robert überlegte. „Vielleicht kann dir meine zukünftige Frau ja helfen,
sie kennenzulernen.“ „Wieso?“ „Sie arbeitet dort gelegentlich als Laiendarstellerin. Vielleicht kennt
sie sie ja? Wäre wohl gar nicht so unwahrscheinlich.“ Ich konnte es nicht glauben. „Wirklich? Das
wäre ja fantastisch!“, stieß ich hervor. „Dann könnte sie uns ja vorst…“ „Entschuldigung bitte, aber
darf  ich kurz stören?“,  unterbrach mich plötzlich eine zarte Stimme und zwang uns beide zum
Aufsehen.  Zuerst  glaubte ich an einen Irrtum.  Doch schon in der  nächsten Sekunde schoss  ein
rasender Stich in mein Herz,  der wohl Wiedersehensfreunde,  Aufregung und Panik zugleich war.
Vor uns stand die junge Frau vom Theater! Sie musste zufällig hier sein, mich gesehen und gleich
wieder erkannt haben. Ich konnte nichts sagen, schnappte nach Luft, wollte sofort aufspringen und
sie begrüßen. Doch nichts davon passierte. Ich saß einfach nur da wie gelähmt und starrte sie an.
Und dann geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte: Mein Bruder nahm ihre Hand. Und in diesem
Moment verstand ich: Sie war die Verlobte. Sie war die Frau, die er heiraten würde. Während ich die
beiden noch ungläubig ansah, zog er sie schon sanft auf den freien, mit rotem Samt besetzten Stuhl
neben sich und begann, uns einander vorzustellen. „Dale, das ist Susannah. Susannah, das ist mein
Bruder  Dale.“  Alle  Farbe  wich  aus  meinem  Gesicht.  „Sehr  erfreut…“,  murmelte  ich  fast
automatisch und reichte ihr eine schweißnasse Hand zur Begrüßung. Sie schüttelte sie fest. Während
wir uns berührten, glaubte ich, in ihren rehbraunen Augen einen vertrauten Ausdruck und vielleicht
sogar  einen  Funken  Freude  zu  entdecken,  doch  ihre  ganze  restliche  Mimik  lies  davon  nichts
erkennen. Einzig und allein ein kleines, kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht und bewirkte einen
unbarmherzigen Stich in meinem Herzen. Mir kam die Galle hoch. Das konnte doch einfach nicht
wahr  sein!  „Das  ist  aber  wirklich  ein  Zufall,  Schatz.  Wir  haben  tatsächlich  gerade  von  dir
gesprochen!“, sprudelte es aus Robert heraus und ich bemerkte, dass er sie ansah wie ein seltenes
Juwel, das ihm durch Zufall in die Hände gefallen war. „Ach wirklich?“, fragte sie neugierig und
bedachte ihn mit einem weichen, warmherzigen Blick. Er fing ihn begierig auf. „Ja! Stell dir vor,
Dale war gestern Abend auch bei Deiner Vorstellung. Und er interessiert sich für…“ „Ach lass!“,
unterbrach ich ihn hastig. „Das ist jetzt wirklich nicht wichtig. Lass uns über etwas anderes reden.“
Robert stutzte einen Moment, wechselte dann aber gehorsam das Thema. Ich hörte nicht mehr, wie
er dann fortfuhr. Ich hatte nur das Gefühl, mich in der nächsten Sekunde vor den beiden übergeben
zu müssen. Jedes der Worte am Tisch schwebte nun wie ein undurchdringlicher Nebelschwaden an
mir vorbei. Susannah – so hieß sie also: S u s a n n a h –  sprach nichts, hielt den Kopf gesenkt und
platzierte ihre Hand in einer vertrauten Geste auf Roberts. Zwischen ihr und mir gab es etwas, das
spürte ich. Eine scheinbar unüberwindbare imaginäre Mauer. Sie musste es auch bemerkt haben; zu
befangen kam sie mir  in diesem Augenblick vor.  Roberts  Lippen formten weiterhin Sätze,  von
denen ich nichts mitbekam. Als der Ober uns endlich die Getränke servierte und mir die Speisekarte
in  die  Hand  drückte,  flogen  meine  Augen  über  die  Gerichte.  Ich  las,  aber  ich  las  nicht.
Geräuschfetzen vom Nebentisch drangen an mein Ohr,  immer wieder durchbrochen von Roberts
lebhafter Stimme und ihrem Blick. Ich konnte mich nicht konzentrieren, ein siedend heißer Schmerz
tobte in meiner Brust.  Krampfhaft überlegte ich, wie ich dieser grauenhaften Situation entfliehen
könnte. Robert musste meine plötzliche Verstocktheit sicherlich bemerkt haben, versuchte aber, sie
aber mit ausuferndem Geplapper zu überdecken. Ich hingegen kam mir vor wie ein Dampfkochtopf,
kurz vor dem Siedepunkt. Verdammt, du musst hier raus! Pulsierte es in mir. Schließlich fasste ich
einen Entschluss; drückte in einer hastigen Geste meine Zigarette aus, kippte das Pils hinunter und
murmelte etwas von einer vergessenen Redaktionssitzung. Herbe Enttäuschung brannte auf Robert
Gesicht,  als ich nun abrupt aufrumpelte;  das Geld auf den Tisch warf und wie von Sinnen zum
Ausgang stürzte. Auch sie verfolgte mein Tun mit einer Mischung aus Trauer und Bestürzung. Oh
Gott,  ich  konnte  sie  gar  nicht  ansehen.  Wie  wunderbar  sie  doch  war!  Zart  wie  eine
Porzellanpüppchen, mit der Anmut eines seltenen Schmetterlings. An einem anderen Ort, zu anderer
Zeit und diesen Umständen entrückt, hätte ich sie niemals verlassen. Doch jetzt und heute ging es
nicht  anders.  Als  ich schließlich auf  dem Bürgersteig stand und mir  die  Lunge aus  dem Leib
keuchte,  wusste ich, dass auch sie mich erkannt hatte.  Und, dass ich ihr nicht völlig gleichgültig
war.
Draußen versuchte ich mich erst einmal zu beruhigen. Die am Morgen so angenehm kühle Luft war
mittlerweile einer drückenden Schwüle gewichen. Auch am Himmel standen die Zeichen auf Sturm:
Dunkle Wolken agierten bereits als Vorboten für ein einsetzendes Gewitter. Aber das war mir egal.
Kopflos  wandte  ich  mich  nach  rechts  und  schritt  festen  Schrittes  die  Straße  entlang.  Meine
Gedanken kreisten wie verrückt, während ich mich immer weiter von dem Ort entfernte, wo sie war.
Wo er war. Wo sie waren. Ich sah sie auf der Bühne; an der Straßenecke; überall und dann neben
meinem Bruder. Anklagend hob ich den Kopf und spukte in den Himmel. „Was soll das? Was zum
Henker hat das zu bedeuten? Warum passiert so eine verdammte Scheiße ausgerechnet mir?!“ Als
Antwort spürte ich erst  nur vereinzelte Tropfen auf meinem Mantel,  dann mehr und schließlich
einen Platzregen, der den Gehsteig binnen Sekunden in eine nasse Rutschbahn verwandelte.  Ich
lachte  hämisch.  Sollte  es  doch  hageln,  es  gab  sowieso  nichts,  was  mir  in  diesem Moment
gleichgültiger war! Um mich herum spannten die Leute ihre Schirme auf, rannten panisch in den
nächsten Hauseingang oder benutzten eine Zeitung als Schutzschild. Ich jedoch benötigte nichts von
alle dem sondern stapfte einfach nur weiter durch die nun mehr und mehr verlassenen Straßen,
begleitet von peitschendem Donnergrollen. Um das Übel perfekt zu machen, zog jetzt auch noch
starker Wind auf, der sich eisig seinen Weg durch meine Kleider bahnte. Ich reagierte darauf, indem
ich den Mantel enger um meinen Körper schnürte, was aber nicht mehr sehr viel half, da er binnen
Minuten sowieso völlig durchnässt war. Es passte perfekt: Die äußeren Umstände spiegelten meinen
eigenen Alptraum wider: Mein Bruder heiratete eine Frau, für die ich offensichtlich Gefühle hegte.
Es war einfach nicht zu glauben.
Irgendwann  tauchte  das  vertraute  Gesicht  meiner  Stammkneipe  auf.  Dorthin  zog  ich  mich
manchmal  zurück,  wenn ich  nicht  schreiben konnte  und  die  Stille  meiner  Wohnung  mich  zu
erdrücken schien. In den letzten Jahren war das sehr oft  der Fall  gewesen. Sobald ich dann auf
einem Barhocker  Platz  nahm und einen guten alten Jacky D.  Kippte,  war  die  Welt  wieder  in
Ordnung. Dan, der Barkeeper, verheiratet mit drei Kindern und fett wie ein Pottwal, kannte mich
schon seit  Jahren und rieb sich jedes Mal wieder nachdenklich seinen krauseligen Bart,  wenn er
mich sah. Er fragte sich, was denn aus mir  werden sollte,  während er mir meinen „guten alten
Freund, den Whiskey“ hinstellte. Ich wusste genau, was er dachte. Böse Zungen hätten behaupten
können, ich wäre Alkoholiker. Dan bediente viele Alkis an seiner Bar und hatte weiß Gott Ahnung
davon.  Ich jedoch war  keiner.  Dessen  war  ich  mir  sicher.  Trinken  war  einfach nur  ein  guter
Schlüssel zum Schreiben, das war alles. Und wenn ich flüssig schreiben konnte, vergaß ich sowieso
die Welt um mich herum. Gedanken zogen dann vorbei wie treibende Wolken. Meine Einsamkeit,
die  beschissene  Kindheit,  gescheiterte  Beziehungen,  alles  schlich  sich  einfach  davon  wie  ein
geprügelter Hund auf der Straße. An solchen tristen Abenden, die sich häufig in schlaflose Nächte
verwandelten, war das Glas in der Hand schon immer ein treuer Begleiter gewesen. So auch heute.
Ich saß da, trank, qualmte und sinnierte über mein verkorkstes Leben. Und drei Jacky D.s  später
war ich nicht einmal mehr dazu in der Lage.
Die Theaterkritik wurde an diesem Abend natürlich nicht fertig, was mir am nächsten Tag gehörige
Probleme mit meinem Redakteur einbrachte. Sam und ich diskutierten eine halbe Stunde hin und
her und schließlich schrieb ich kurz und knapp eine lieblose, mit wenig Einfällen gesegnete Passage
über das Stück. Obwohl es gut gewesen war, verteufelte ich es und übte damit meine persönliche
Rache für das Szenario des gestrigen Tages. Die Kopfschmerzen, die mich beim Tippen des Textes
begleiteten, waren überdimensional,  von der Übellaunigkeit  gar nicht zu sprechen. Ich hatte das
Gefühl, als befände ich mich in einem Karussell, das sich ständig drehte. Die Kippe fiel häufig auf
die Tasten, was wahrscheinlich nicht unwesentlich am Zittern meiner Hände lag. Meine psychische
Verfassung war am Nullpunkt. Gleichzeitig verachtete ich mich dafür, weil ich mich wegen einer
Frau,  die  ich noch nicht  einmal  kannte,  so anstellte.  Es  war  doch nur  ein kurzer  Augenblick
gewesen! Was führte ich mich auf wie ein alberner Teenager! Aber diese Gewissheit, dass sie es war
und dass sie es nicht für mich war und nie sein würde – die machte mich wahnsinnig. Ich wollte sie
vergessen; sie aus meinem Kopf drängen wie ein unerwünschter Gast. Aber das konnte ich nicht.
Sie  würde  schließlich  bald  die  Frau  meines  Bruders  werden  und  das  musste  ich  schlucken.
Wahrscheinlich  hatte  ich  mich  auch  einfach  getäuscht  und  sie  falsch  eingeschätzt.  Sie  war
schließlich auch eine Frau, wie alle anderen auch. Aber dieses starke Gefühl. Dieses seit langen so
starke Gefühl… Wo kam es nur her? Und warum war es da? Diese Fragen quälten mich. Trotzdem
war sie tabu. Gegessen. Durch. Ich durfte sie einfach die nächste Zeit nicht mehr sehen, um wieder
einen klaren Kopf zu bekommen. Aber wie zur Hölle sollte ich den Kontakt zu ihr vermeiden, wenn
sie bald heiraten und ich auf ihrer Hochzeit sein würde? Dafür fand ich keine Lösung. So sehr ich es
auch drehte und wendete. Irgendwann übertrug sich das Karussell in meinem Kopf schließlich auch
auf meinen Magen. Folgerichtig stürzte ich auf die Toilette und übergab mich dort mit würgenden
Lauten. Den ganzen verdammten Tag pendelte ich nun zwischen dort und dem Computer, an dem
versuchte, meinen Job hinzukriegen. Aber es war und war nicht möglich. Ich konnte keinen klaren
Gedanken fassen, keine guten Sätze formulieren – zu sehr beschäftigte mich die ganze verdammte
Sache.  Wie hatte es mich nur so erwischen können? Aber: That´s life.  So war das eben. Ich war
niemand, der richtig lieben konnte. Ich liebte mich selbst, keine Frau. Aber das stimmte nicht. Nicht
mehr. Ich konnte lieben und tat es. Ich durfte es nur nicht.
Die Tage seit dem Treffen verstrichen zäh wie Leim. Ich verbrachte sie damit, mich wie ein Eremit
in meiner Wohnung zu verkriechen und die Wände anzustarren. In meinem Kopf spielte sich immer
wieder die gleiche Szene ab: Susannah, mein Bruder und ich. Und wie ich es auch drehte und
wendete,  die Konstellation ergab nie einen Sinn. Ich konnte sie nicht haben. Ich würde sie nie
berühren. Wir würden uns nie lieben. Ganz einfach. Irgendwo auf dieser Welt gab es doch sicher
auch für mich eine Frau, für die ich genauso empfinden konnte wie für sie. Die ich nicht nur zum
Ficken benutzte, sondern für mehr. Mitten in diesem Gedanken hielt ich inne. Wie fühlte ich mich,
wenn ich an diese Möglichkeit dachte? Beschissen. Fahrig strich ich mir die mittlerweile fettigen
Haare aus der Stirn. Ja. Beschissen. Aber besser, als wenn sich mein geliebter Bruder Robert scheiße
fühlen würde,  oder?  Ich stierte  durchs  offene Fenster  zu meiner  Nachbarsfamilie  hinüber.  Die
Rollläden waren heruntergezogen und eine ungewöhnlich subtile Stille beherrschte die Szene. Ob
sie in den Urlaub gefahren waren? Noch letzte Woche hatte mich ihr ewiges Geklapper mit  den
Töpfen, das Gezanke und Gedusche genervt, jetzt vermisste ich es fast. Es hatte mir zumindest nicht
das Gefühl gegeben, komplett alleine auf dieser Welt zu sein. Mein Blick fiel auf die Spüle hinter
mir.  Dort stapelten sich ungewaschene Teller neben drei  leeren Pizzaschachteln. Ich lachte bitter
auf.  Wenigstens hatte ich seit  dem Schock meine Pedanterie,  wegen der  mich jeder,  der  mich
kannte, aufzog, verloren. Nicht einmal der strenge Geruch, der in der Luft lag, störte mich. Fast kam
mir vor wie Robinson Crusoe auf seiner Insel: Gestrandet und ratlos. Einer Insel, auf der sich der
Müll als stinkender, ekelerregender Haufen sammelte und darauf wartete, entsorgt zu werden. Einer
Insel,  auf der sich Berge von Geschirr türmten. Einer Insel,  auf der ein ungepflegter  Mann vor
seinem Schreibtisch saß und sich seit Tagen selbst bemitleidete. Nur, dass die Insel keine Insel war,
sondern nur eine stickige Bude, in der im Moment kein normaler Mensch mehr sinnvoll arbeiten
konnte.  Arbeit.  Das  Zauberwort.  Ich hatte zu arbeiten.  Das  würde mich retten.  Schließlich war
Abgabeschluss  meiner  Reportage  für  den  Sonderteil  Anfang  September.  Moment.  Anfang
September?  Abrupt  stand ich auf  und eilte  zum Kalender.  Verdammt,  das  war  in zwei  Tagen.
Wunderbar: Und ich hatte immer nichts auf dem Papier. Jetzt litt also schon meine Arbeit. Es half
nichts. Ich musste einen Interviewtermin machen. Sofort.
Als ich drei Stunden später der Diplompsychologin Sarah D. gegenüber saß, war ich wieder der Alte
und setzte mein übliches Pokerface auf. Breitbeinig saß ich in einem bequemen Ledersessel, um ihr
in ihrem adäquaten Kostümchen mit Spitzenkragen zuzuhören. Sie wirkte so bieder, dass ich mich
fragte,  ob diese Frau in ihrem Leben schon jemals anständigen Sex gehabt hatte.  In der rechten
Hand befand sich mein Aufnahmegerät, das mir beim anschließenden Kürzen des Textes behilflich
sein würde. Im Kopf überschlug ich die Zeit, die mir noch blieb, mein Geld zu verdienen. Das Ding
musste heute Abend fertig werden, sie würde es morgen gegenlesen  und am Freitag bekam Sam es
in die Redaktion für die nächste Ausgabe.  Könnte klappen. Wenn ich nicht heute Nacht schlapp
machte.  Aber  ich wusste:  Mit  fünf,  sechs Kaffees  und zwei  Schachteln Kippen konnte  ich zu
Superman werden, Schlafdefizit hin oder her. Ja, so gefiel ich mir besser. Er war also wieder da: Der
alte Knabe, der nichts anbrennen ließ, ständig alles auf den letzten Drücker erledigte und dabei noch
cool wie ein Eiswürfel war. So gefiel ich mir viel besser als vorher. Und die Sache mit Susannah
würde ich auch noch hinbekommen. Frauen waren schließlich austauschbar. Selbstgefällig grinste
ich mein Gegenüber an. Hatte ich da eben nicht ein verlegenes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht
gesehen?
Später beugte ich mich über den Computer und hämmerte das Gesagte in die Tastatur. Gerade als
mein Daumen das Aufnahmegerät drückte, um das Interview am Nachmittag nochmals abzuspielen,
fiel mein Blick auf die Uhr: 1.03 Uhr. Eigentlich Zeit für ein Schläfchen. Aber das musste warten.
Eigentlich fühlte ich mich sogar noch ganz fit, auch wenn ich seit geschlagenen vier Stunden am
Computer saß und meine Augen wie Feuer brannten. Es half einfach nichts:  Das Feature musste
fertig  werden,  sonst  konnte  ich  mir  einen  anderen  Job  suchen.  Und  noch  einmal  mit  Sam
zusammenrücken, wie schon so oft in den letzten Monaten – das war einfach nicht drin. Während
ich also der lieblichen Stimme von Sarah D. Lauschte, verpackte ich ihre Wörter schon in geschickt
geformte  Sätze,  die  an  Präzision  kaum  zu  überbieten  waren.  Langsam beruhigte  sich  mein
Herzschlag wieder. Es war ok. Alles war wieder im Lot: Sam würde begeistert sein und ich hatte
wieder die Position, die mir in der Zeitung zustand. Er und ich kannten uns schon lange. Fast  zu
lange. Ich wusste, welche Socken er an welchen Tag trug, wen er Samstag Abends beim Bridge traf
und wenn ich mich ein bisschen anstrengte, konnte ich sogar sagen, welche Hämorrhoiden-Salbe er
benutzte! Nein, wir hatten wirklich keine Geheimnisse mehr voreinander. Schon seit der Uni nicht.
Dort  waren  wir  uns  bei  einem Literaturkurs  zum ersten  Mal  begegnet  und  hatten  uns  sofort
angefreundet. Das war bis heute so. Mit seinen 56 Jahren war Sam ein gutes Stück älter als ich. Ein
„Spätberufener“  wie  man  so  schön  sagte.  Auf  dem  zweiten  Bildungsweg  Abitur  gemacht,
Theaterwissenschaft studiert und nebenbei immer wie ein Wilder geschrieben. Nach dem Studium
war er bei einer der größten Zeitungen im Land eingestiegen und hatte sich mit eisernem Willen
hochgearbeitet,  um sich schließlich als krönenden Abschluss den Chefsessel  unter den Nagel  zu
reißen. Heute konnte ihm keiner ein X vor ein U vormachen. Er hatte es drauf und genau deshalb
hatte  er  auch  mich  auch  an  Bord  geholt.  Weil  ich es  genauso drauf  hatte.  Zumindest  beim
Schreiben. Stolz erfüllte mich, wenn ich das dachte.  Vielleicht auch ein gewisses Maß Eitelkeit.
Aber das benötigte man nun einmal in meinem Job. Als die Uhr 5.07 zeigte, tippte ich die letzten
Worte in meinem Laptop und knallte mich ins Bett. Dort gab es dann eine ganze Zeit nichts außer
lieblichen Stimmen, Flugzeugen und zwei dunklen Augen, die mich anklagend anstarrten.
Das Telefon kreischte und riss mich aus dem Schlaf. Ich lies es läuten. Mit Sicherheit Robert. Die
letzten Tage hatte er bereits mehrmals vergeblich versucht, mich zu erreichen. Ich war mir sicher,
dass er mich mittlerweile für völlig verrückt hielt,  weil ich nicht einmal zurückrief. Als sich der
Anrufbeantworter ein weiteres Mal  einschaltete,  um seine besorgte Stimme aufzunehmen, folgte
erst ein leises Rascheln, dann unerwartet eine Frauenstimme. Wer war das? Ich kannte die Stimme
nicht.  Doch dann war  es  mir  klar  und meine Augen weiteten sich vor Schreck.  Susannah!  Im
nächsten Moment war ich zum Telefon gestürzt.
Wir saßen uns gegenüber und schwiegen. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe, sie spielte mit
ihrem Löffel  in  dem längst  abgekühlten  Kaffee.  Die  Szene  erschien  mir  unwirklich,  draußen
prasselten Tropfen heftig gegen die Scheibe. Wieder hatte es begonnen, zu regnen, als ich das Haus
nach ihrem Anruf – nur mit  der nötigsten Körperpflege versehen – verlassen  hatte.  Mittlerweile
musste es bereits Mittag sein. Der Zeit, in der ich eigentlich bei der Psychologin hätte sein müssen,
um das finale OK für die Veröffentlichung des Textes einzuholen. Ich wusste, mein Verhalten würde
mir das Genick brechen, aber  scheiß drauf – manchmal gab es im Leben nun einmal Wichtigeres als
berufliche Termine. Draußen vor dem Fenster war alles grau. Ich erinnerte mich an den Moment, an
dem  wir  uns  vorhin  das  erste  Mal  alleine  gegenüber  gestanden  hatten.  Mit  schüchterner
Zurückhaltung,  weltentrückt  in  einem weinroten  Satinkleid,  war  sie  plötzlich  aus  der  Menge
aufgetaucht. In diesem Moment hatte ich mich sehr zusammennehmen müssen, sie nicht sofort an
mich zu ziehen. Stattdessen presste ich die Hände krampfhaft in die Hosentaschen und hielt dem
betretenen Schweigen, das nun zwischen uns lag, stand. Keiner von uns wusste, wie man sich als
Fremde eigentlich zu begrüßen hatte. Schließlich drehte ich fragend meinen Kopf in Richtung Café.
Sie nickte. Als wir eintraten, berührten sich unsere Finger. Nur für einen kurzen Moment und doch
durchzuckte mich sofort ein angenehmer Schauer. Oh Gott – sie war mir so nah und gleichzeitig
Lichtjahre entfernt. Ich eilte voraus, wählte einen kleinen Seitentisch am Fenster und bot ihr an, sich
zu setzen. Und dann war es auf einmal nicht mehr zu leugnen: In Gegenwart dieser Frau benahm ich
mich wie ein Teenager vor dem ersten Date. Da war nichts mehr von dem kühlen Reporter, dessen
Rolle ich sonst  so selbstverständlich einnahm.  Stattdessen zitterten meine Hände wie die eines
Greises, während tausend Dinge durch meinen Kopf schossen. Trotzdem fand keines der Worte den
Weg über meine Lippen. Gerade,  als ich uns zwei  Kaffee bestellt  hatte und ein paar belanglose
Worte zur Lockerung der Situation verlieren wollte, platzte es plötzlich aus ihr heraus: „Dale, ich
wollte  Dich hier  treffen,  weil  ich das  Gefühl  hatte,  du hast  ein Problem mit  mir.  Du bist  im
Restaurant so überstürzt davon geeilt, als hättest du den Teufel persönlich gesehen. Robert macht
sich große Sorgen deswegen; er kann Dich schon seit Tagen nicht erreichen. Und ich mache sie mir
auch – auch wenn du das vielleicht nicht glaubst.“ Ungläubig starrte ich sie an. Sie nestelte nervös
an ihrer Armbanduhr, dann fuhr sie fort. „Mir ist schon klar, dass ich dich eigentlich ja gar nicht
kenne.  Aber  trotzdem möchte ich nicht,  dass das schon von Anfang an gleich schlecht mit  uns
läuft.“ Sie beugte sich näher zu mir. „Also. Wenn du wirklich ein Problem mit mir hast, dann bitte
ich dich, mir das jetzt ganz direkt zu sagen. Vielleicht kann ich ja etwas daran ändern.“ Ich schwieg
betreten. Was sollte ich dazu auch sagen? Wie  konnte  sie so etwas auch nur  eine einzig Sekunde
annehmen? Ich kam mir vor wie ein Volltrottel. Und zwar einer, der sich selbst ganz gewaltig selbst
etwas vorgemacht  hatte.  Susanah war gar nicht  an mir interessiert.  Sie hatte nicht das mindeste
Interesse an einem Flirt und nur angerufen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Ich seufzte.
„Ich? dich nicht mögen? Wie kommst du denn darauf? Ich kenne dich ja schließlich nicht einmal!“
Verlegen ruckelte sie auf der Sitzbank herum.  „Ich weiß…“,  gab sie zu. „Und es tut mir ja auch
wirklich leid,  dass  ich so etwas  annehme.  Aber  du hast  bei  unserem ersten Treffen einfach so
gewirkt! Und jetzt gehst du nicht mehr ans Telefon und sprichst nicht mehr mit Deinem Bruder. Was
soll man denn in so einer Situation sonst glauben?“ Fragend sah sie mich an. Ich rang mit mir. Sollte
ich ihr etwa die Wahrheit sagen? Ich hatte keine Lust, ihr etwas vorzulügen. Auf der anderen Seite
war aber auch mein Bruder mit in diesem Spiel und einer von uns würde – sollte sie vielleicht wider
Erwarten doch Interesse an mir haben – dann auf jeden Fall der Verlierer sein. Und die Frage, die
sich außerdem stellte, war:  Wollte ich das dann? Wollte ich wirklich meinen eigenen Bruder in die
Pfanne hauen? Aber allein schon der Blick in ihre sanften Augen lies mich schwach werden, ja,
schmelzen wie ein Stück Butter in der Sonne. Hatte sie es nicht verdient, die Wahrheit über meine
Gefühle zu erfahren? Vielleicht konnte ich es ihr ja sagen, ohne…Ja ohne was? Ohne, dass sie es
ihm sagte?  Das  war  unwahrscheinlich.  Ich überlegte  ein paar  Minuten.  Dann fasste  ich einen
Entschluss: Ich würde es tun. Sie musste wissen, was ich für sie fühlte. Dass ich etwas fühlte. Nur,
um Klarheit zu schaffen. Um mit offenen Karten zu spielen. Von Anfang an, so wie sie es gewollt
hatte.  „Susannah, es ist  ein bisschen anders,  als du denkst…“,  begann ich. „Ich…“  Stopp Dale!
schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Wenn du das jetzt aussprichst, machst du alles kaputt! Ich
stockte.  „Was ist denn los?!“,  drängte sie ungeduldig. „Wieso redest  du nicht weiter? Erklär mir
bitte, wie es wirklich ist.“ Ich schwieg. Starrte auf die ungeputzte Tischplatte, auf der nun meine
kalkweißen Hände lagen. „Susannah. Also es ist  so, dass…  du musst  wissen…“ Verdammt,  ich
konnte es einfach nicht! Wie zum Teufel sollte man so etwas denn auch in Worte fassen!? Ich knallte
mit der Faust auf den Tisch, so dass er bebte. Besorgt nahm sie meine Hand. Als ich aufsah, flüsterte
sie eindringlich: „Dale. Jetzt hör mir mal zu. Egal, was es ist. du kannst mir vertrauen.“ Ich war hin
und her gerissen. Öffnete den Mund, um es ihr entgegen zu schreien, doch wieder drang kein Laut
über meine Lippen. Es war,  als wäre ich stumm.  Sie sah mich weiterhin mit  einer Engelsgeduld
abwartend an, hielt  fest  meine Hand. Plötzlich schämte ich mich dafür,  dass ich sie einweihen
wollte. Es war nicht fair meinem Bruder gegenüber. Wenn nur die geringste Chance bestand, dass
auch sie…? Ich schloss die Augen, senkte den Kopf. Dann würden gleich drei Menschen leiden und
nicht  nur  einer.  Nach einer  Weile seufzte sie.  „Sieh mich an,  Dale.  Sieh mich bitte an.  Es  ist
wirklich schade,  dass du mir nicht vertrauen kannst.  Ich hätte dir wirklich gerne geholfen. Aber
dann muss ich eben dir jetzt etwas sagen…“ Ich hob den Kopf und lauschte.
Nach dem wir uns verabschiedet hatten, trottete ich mit hängenden Schultern durch die Gassen. Es
war vorbei. Sie hatte mir klar und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie sich für die
Zukunft einen guten Kontakt miteinander wünschte und mein Bruder und sie immer für mich da
sein würden – egal, was ich ihr vielleicht zu sagen gehabt hätte. Frustriert schüttelte ich den Kopf.
Ich hatte  etwas  anderes  als  dieses  Freundschaftsblabla  erwartet.  Ich hatte  erwartet,  dass  sie  es
wusste. Es spürte. Ja, es vielleicht sogar erwiderte. Aber nichts! Selbst wenn sie tatsächlich wusste,
was  in  mir  vorging,  hatte  sie  es  in  unserem Gespräch  nicht  ausgesprochen  oder  mit  Absicht
ignoriert. So hatten wir beide um den heißen Brei herumgeredet. Schließlich hatte sie mir auch noch
das  Versprechen  abgerungen,  bei  der  Hochzeit  dabei  zu  sein.  Wie  hätte  ich  ihr  diese  Bitte
abschlagen  können?  Es  hatte  mich  enorme  Überwindung  gekostet,  zuzusagen.  Sie  aber  war
erleichtert gewesen. Trotzdem: Eines konnte ich nicht abschütteln: Während des ganzen Gesprächs
hatte mich manchmal das leise Gefühl beschlichen, dass hinter dem, was sie mir sagte, ebenfalls so
etwas wie Zuneigung stand. Ja,  ich bildete mir sogar ein, es in ihren Augen, in ihren Worten, ja
sogar  in einzelnen Gesten erkannt zu haben!  War  ich verrückt? Ich konnte mich doch nicht so
täuschen!  Meine Hände ballten sich zu Fäusten.  Was nutzte mir  denn dieses ganze beschissene
Leben,  wenn ich diese  Frau nicht  haben konnte?  Wen interessierten überhaupt  diese  dummen
Theaterkritiken, die ich Woche für Woche, Jahr für Jahr schrieb? Wen interessierte das, was ich tat?
Ich konnte mich doch nicht nächste Woche einfach in die Kirche stellen und den beiden beim
Heiraten zusehen! Ich konnte nicht Taufpate bei dem Kind, das dann aus dieser unglückseligen Ehe
hervorgehen würde, sein! Alleine die Vorstellung daran gruselte mich. Es würde aussehen wie sie.
An den Rest wollte ich gar nicht denken. Abrupt blieb ich stehen. Es musste eine Lösung her. Jetzt.
Und was hatte mir in solchen Situationen immer schon geholfen? Na klar – das Übliche: Alkohol.
Schreiben. Einsamkeit. Natur. Jemand, bei dem ich mich auskotzen konnte. Nur da war niemand.
Die einzige Person, mit  der ich mich hatte immer austauschen können, war immer mein Bruder
gewesen. Ich runzelte die Stirn – das konnte ich ja nun getrost vergessen. Wo verdammt nochmal
waren eigentlich meine Kippen? Immer, wenn man sie brauchte, waren sie nicht da. Während ich
nun wie ein Wilder die Taschen meines Mantels durchwühlte, rempelte ich versehentlich gegen eine
junge Frau. „Blöder Penner, pass doch auf, wo du langgehst!“ schrie sie angeekelt und beeilte sich,
mich möglichst schnell zurück zu lassen. Ich blieb fassungslos zurück. Wie ungepflegt musste ich
aussehen,  dass  dieser  fremde  Mensch  mich  als  Obdachlosen  wahrnahm?  Ein  Blick  in  das
Schaufenster zu meiner rechten genügte. Dort zeigte sich ein versiffter Mann mittleren Alters mit rot
umrandeten Augen, aus denen die Wut regelrecht schrie.
Als es schon dunkel war, saß ich am Flussufer und hatte den Kopf in die sternklare Nacht erhoben.
Mein Handy gab es nach mehrmaligem Versuchen auf,  mich zu stören und vibrierte nutzlos in
meiner Jacke. Schwer lag der  angebrochene Rotwein, den ich mir vorhin an der Tanke geholt hatte,
in meiner Hand. Ich würde gleich den letzten Rest hinunterkippen, denn ich wusste ganz genau, wer
mich zu so nachtschlafender Zeit so dringend erreichen wollte: Sam. Und warum er anrief, wusste
ich auch: Ich hatte den Redaktionsschluss für das Interview vergeigt.  Das wiederum konnte das
endgültige Aus für meinen Job bedeuten. Plötzlich überschwemmte eine ungeahnte Traurigkeit mein
Gemüt, wie die Flut das Watt. Nur dass hier keine Ebbe mehr in Sicht war. Scheiß Situation. Aber
Dale, der Sieger, hatte sich selbst reingeritten. Und das wegen einer Frau! Mal wieder. Ich verzog
wie unter Schmerzen das Gesicht. Irgendwie bockte mich das alles gar nichts mehr. Ruhe wäre jetzt
schön. Endgültige Ruhe.  Ich blickte in das schwarze Wasser.  Wie es wohl wäre,  dieses unselige
Leben an dieser Stelle einfach zu beenden? Das hatten hier schon viele getan, wie aus dem örtlichen
Klatschblatt immer wieder hervorging. Das letzte Mal war erst vor zwei Wochen gewesen: Ein 16jähriger
Teenie hatte sich aus Liebeskummer das Leben genommen. „Jung und dumm“, sagte man.

Aber hatte sie jetzt nicht ihre Ruhe? Vielleicht war sie ja glücklich, da wo sie jetzt war? Warum
denn nicht schon mit 16 Jahren sterben – was wartete denn in diesem beschissenen Leben noch auf
einen, wenn man älter wurde? Streit. Ärger. Hoffnungslosigkeit. Und wenn man alt war, verreckte
man elendig an Prostatakrebs.  Mahlzeit.  Darauf konnte ich wirklich verzichten.  Das  Wasser  zu
meinen Füßen glitzerte verführerisch im Mondschein, niemand war in der Nähe. Wie würde es sein,
dort zu versinken? Wie würde er sein, dieser Moment des Sterbens? Was ging einem durch den
Kopf? Wurde man von Panik überwältigt oder öffnete man dem Tod die Arme,  wie einem lang
ersehnten Freund. Die Aussicht, es zu versuchen, war verlockend. Und jetzt – in dieser Sekunde hatte

ich doch erst  recht einen guten Grund, damit  endlich Schluss zu machen. Die Lust,  mich
einfach ins trübe Wasser fallen zu lassen, wurde übermächtig. Ruckartig stand ich auf und stieß
dabei versehentlich die Weinflasche ins Wasser. Sofort trieb sie davon. Sehnsüchtig sah ich ihr nach.
Dann setzte  ich zögernd den rechten Fuß ins Wasser.  Doch als  das  kühle Nass  meine Socken
vollsog, verließ mich der Mut. Schwer ließ ich mich wieder auf meinen Hintern fallen. Das konnte
doch wirklich nicht wahr sein! Was war ich nur für eine Memme – sogar zum Selbstmord war ich
nicht fähig! Bevor ich mich versah, fing ich an zu heulen, bis dass der Rotz aus meiner Nase seine
klebrigen Fäden über mein Gesicht zog. Minuten später kicherte ich wie ein Irrer. Dann begann ich
zu  fluchen.  Jemand,  der  mich  vielleicht  beobachtete,  musste  annehmen,  ich  sei  verrückt.
Durchgeknallt. Ein Irrer. So gab ich mich eine Zeitlang meinen unsteten Gefühlswogen hin. Als die
Sonne schließlich den Horizont erhellte, bewegte ich mich nach Hause und schleppte mich mit in
mein Bett.  Die durchgeschwitzten,  klebrigen Klamotten ließ ich an –   es  hätte zu viel  Energie
gekostet, sie auszuziehen.
Am Nachmittag schrillte das Handy. Noch völlig verschlafen und unkoordiniert griff ich danach und
nahm das  Gespräch an.  Am anderen Ende  war  Sam.  Und  er  war  wütend.  „Sag mal,  was  ist
verdammt noch mal los mit dir, Dale?“ brüllte er. „Hat man dir jetzt komplett ins Hirn geschissen?“
Mir war klar,  was jetzt  kam.  Kommen musste.  Ich fing an, eine Entschuldigung ins Telefon zu
stottern. „Sam,  ich…“ Aber keine Chance – er ließ mich nicht einmal  ansatzweise ausreden. „Du
Idiot! Du hast das Interview platzen lassen! Du schreibst Kritiken, die ein Praktikant hätte besser
formulieren können! Du bist unzuverlässig! Und du säufst!“ Seine Stimme schwoll an, wurde so
laut, so dass ich das Handy vom Ohr weg halten musste. „Mein Freund“, stellte er fest, „ich muss
dir  jetzt  etwas  sagen.“ Ich schloss  die Augen,  erwartete das  Schlimmste.  Und ich sollte Recht
behalten. „Ich kann und will mir das nicht länger anschauen.“ fuhr Sam fort. „Ich habe die Schnauze
gestrichen voll, für dich immer wieder die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Du hast ein Problem,
Dale! Und zwar ein ganz gewaltiges! Ich weiß nicht, was bei dir privat gerade abgeht und es ist mir
auch egal – aber die Tatsache, dass du schon seit längerem keine gute Arbeit mehr ablieferst, macht
mich sauer. Sehr sauer. Und du weißt – wer, wenn nicht du! – dass die Auflage meiner Zeitung von
der guten –  nein, von der exzellenten – Arbeit meiner Leute abhängt! Arbeit, die du leider nicht erst
seit gestern nicht mehr bringst, das ist dir doch klar?“ Wütend schnaubte er ins Telefon, schwieg
dann einen Moment. Ich schickte Stoßgebete in den Himmel, dass er nicht aussprach, was er jetzt
dachte aber dann tat er es doch: Live und in Farbe. „Dale. Es tut mir leid. Aber du bist draußen.“
„Sam verdammt!!“ spuckte ich ins Telefon. „Das kannst du nicht machen! Was habe ich dir nicht
schon alles geliefert! Die Franken-Story – ich war damals der Erste,  der dran war,  da haben die
anderen die Lunte noch nicht  einmal  gerochen! Das Dandy-Protokoll!  Für  dich habe ich meine
ganze Existenz als Reporter riskiert! Und wie oft habe ich deinen Arsch gerettet und die verdammte
Auflage gesteigert! Du  kriegst keinen Besseren als mich und das weißt du auch!“ Mein Gesicht
brannte,  das Adrenalin schoss nur so in Wellen durch meinen Körper.  Du musst  Dich unbedingt
beruhigen, schoss es mir durch den Kopf. Du musst in Ruhe mit ihm reden: Sonst hast du überhaupt
keine Möglichkeit mehr, eine neutrale Gesprächsbasis und damit ein gutes Ende dieses Telefonats
zu finden. Gerade als  ich noch einmal  ansetzen und ihn in versöhnlicheren Ton um eine letzte
Chance unter Freunden bitten wollte – ja ihm versprechen wollte, dass er ab jetzt wirklich mit mir
rechnen konnte – nahm er mir das Wort aus dem Mund. „Du irrst Dich Dale. Ich habe ihn schon.“
Ich starrte verblüfft an die allmählich verblassende kackbraune Tapete meines Schlafzimmers. „Wen
hast du schon?“ „Michael“. Ich musste unwillkürlich lachen. Das war wirklich nicht zu glauben.
„Michael?  Diese Schnarchnase? Der wittert ja noch nicht mal eine Story,  wenn sie ihm auf dem
Silbertablett serviert wird! Das kannst du doch nicht ernst meinen!“ Sam ließ sich Zeit für seine
Antwort. „Und ob ich das ernst meine.“ Dann räusperte er sich und setzte einen versöhnlicheren Ton
an. Weißt du was, mein Freund? Ich wünsche dir alles Gute. Ich hoffe für Dich, dass du Dich in
nicht allzu ferner Zukunft wieder einkriegst. Grundsätzlich bist du ja ein guter Kerl aber du hast ein
echtes Problem mit  dir selbst.  Wenn du meinen Rat hören willst: Geh mal  zum Onkel Doc. Ruh
Dich aus.  Komm runter.  Du bist  ja sogar jetzt  schon wieder besoffen. Um elf Uhr morgens.  So
kannst du nicht arbeiten. Zumindest nicht mehr für mich. Machs gut Kumpel. Und pass auf Dich
auf.“ Als ich das Freizeichen hörte konnte ich es nicht glauben. Mein langjähriger Freund und Chef
hatte mich gefeuert und aufgelegt. Einfach so.
Ich schmiss mich auf mein Bett und fixierte die Decke. So beschissen hatte ich mich schon lange
nicht mehr gefühlt. Was war nur los? Wieso lief plötzlich alles so schief? Wann – oder besser  – wo
war ich so aus der Bahn geraten, dass ich jetzt auch noch meinen Job verloren hatte? Ich überlegte.
Früher hätte mich so etwas kalt gelassen. Jobs. Weiber. Liebschaften. Mein Gott, sie gehörten zum
Leben. Waren so genussvoll wie ein Glas Wein, aber nicht mehr. Nie mehr. Wieso verdammt nun
hatte sich alles um 180 Grad gedreht? Ich schüttelte den Kopf. Bemerkte die leere Weinflasche
neben meinem Bett. Die leeren Weinflaschen neben meinem Bett. Wütend stieß ich mit dem Fuß
dagegen, so dass sie klirrend durch den Raum rollten und gegen die Wand knallten. Es musste
aufhören, ich musste aufhören! Ich durfte nicht mehr so viel trinken! Das machte mich kaputt! Es
veränderte mich. Machte einen anderen Menschen aus mir. Ich wollte von vorne anfangen. Aber was
hieß das? Hieß das, dass ich die Stadt verlassen musste, um ein neues Leben anzupacken, ohne mir
ständig die Birne zuzubrennen? Hieß das weiterhin, kleine Affärchen haben ohne feste Bindung?
Oder endlich mal Nägel mit Köpfen machen; einen Roman schreiben; besser spät als nie Familie
gründen; die Sache mit der eigenen Familie bereinigen und Susannah als Schwägerin akzeptieren
(bei  diesem Gedanken drehte sich mir nach wie vor der Magen um)?  Die Fragen überforderten
mich. Mein scheiß Verstand überforderte mich! Ich wollte meine Ruhe! Nichts mehr denken! Cut!
Aber nichts geschah. Ruhelos wälzte ich mich auf die andere Seite meines Bettes. Die abgenutzte
Wand,  die  ich nun anstarrte,  brachte  auch keine  Lösung.  Vielleicht  war  es  wirklich eine  gute
Möglichkeit, die Stadt zu verlassen und Abstand zu gewinnen. Ich könnte diesen Roman schreiben,
mit  dem ich mich schon seit  Jahrzehnten beschäftigen wollte.  Aber  war  meine  Schreibe dazu
überhaupt gut genug? Hatte ich so viel Grips, um Sätze zu formulieren, die aus meinem Innersten
kamen? Würde sich überhaupt jemand dafür interessieren, was ich schrieb? Grundsätzlich fand ich
es  einfach, über  ein vorgegebenes Thema zu schreiben. Eine eigens  ausgedachte Geschichte zu
schreiben,  dürfte  mühsamer  sein.  Schriftsteller  saßen  dafür  manchmal  Jahre,  vielleicht  sogar
Jahrzehnte, in ihrem Kämmerchen und hackten sich die Finger wund. Und das ohne Erfolgsgarantie.
Ich hingegen hatte nicht einmal die Geduld, an einem Artikel länger als zwei Tage zu feilen. Wenn
ich ihn dann nicht abgeben konnte, änderte ich ihn bis zum Umfallen, weil er nicht perfekt war (bei
der Gelegenheit fiel mir wieder ein, dass ich gerade meinen Job verloren hatte) oder löschte ihn. Ich
selbst  war mein schärfster Kritiker.  Und ich wollte das schnelle Geld. Das war schließlich auch
nicht zu vergessen. Wovon sollte ich leben bis dahin? Meine Stirn runzelte sich. Und wohin sollte
ich eigentlich abhauen? Wollte ich überhaupt gehen? Und welche Rolle spielten dabei Susannah und
mein Bruder? Ach, vergiss die beiden doch endlich!, tobte es wütend in meinem Kopf. Und ich gab
der Stimme in meinem Inneren Recht:  Ich musste jetzt  auf mich schauen – ohne Rücksicht auf
Verluste. Schließlich war ich jetzt vogelfrei – ohne Job und Frau – was konnte es denn schließlich
Besseres geben? Doch so ganz wohl fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht. Trotzdem erschien
mir die Idee, abzuhauen und mich ab sofort komplett meiner Schriftstellerkarriere zu widmen, als
die einzig Richtige. Der Zeiger der großen Standuhr neben meinem Bett rückte schließlich schon
auf  drei  Uhr  morgens  vor,  als  ich  beschloss,  mir  noch einmal  eine  letzte  Flasche  Chianti  zu
genehmigen. Zur Feier des Tages. Irgendwie musste dieser Entschluss ja gefeiert werden.
Am Morgen schlug ich die Augen auf und war jedoch wider Erwarten immer noch ganz unten. Dies
lag heute aber nicht unwesentlich daran, dass sich mein sonst so zuverlässiger Körper anfühlte, als
sei er durch den Mixer gedreht: Steife Glieder und rasende Kopfschmerzen direkt über dem rechten
Auge plagten mich. Wohl das Vermächtnis meines gestrigen Alkoholkonsums.  Die letzte Flasche
war wohl doch zuviel gewesen. Wo hatte ich nur die verdammten Aspirin? Normalerweise schmiss
ich sie immer gleich zusammen mit dem Alk ein, damit der Kater am nächsten Tag nicht so wild
ausfiel.  Jetzt  aber  erinnerte ich mich dumpf,  dass ich gar keine mehr zu Hause hatte.  Auf  dem
Nachtkästchen neben meinem Bett lag das Telefon und starrte mich anklagend an. Ich wusste, dass
ich es heute noch benutzen und meinen Bruder endlich würde anrufen müssen. Abwehrend stöhnte
ich und hielt  mir den Kopf.  Auf ausufernde Problemgespräche hatte ich eigentlich keinen Bock,
würde aber wahrscheinlich nicht darum herum kommen. Jetzt aber musste ich aber erst einmal aufs
Klo. Tief atmete ich durch und zwang mich auf die Beine.  Dort  jedoch kam ich mir vor wie in
einem Karussell  auf  dem Jahrmarkt  – alles  drehte sich.  Mann, war  das  heute ein fetter  Kater!
Unerwartet spürte ich ein flaues Gefühl in meinem Magen, dann schoss etwas Bitteres auch schon
die Kehle hoch. So schnell es ging, stolperte ich ins Bad und erbrach mich in einer Fontäne in das
schon seit  Wochen ungeputzte  Klo.  Es  dauerte fast  eine Stunde,  bis  mein Körper  nichts  mehr
ausschied. Ich stöhnte vor Erschöpfung und hielt mir den mittlerweile noch mehr dröhnenden Kopf,
der Schweiß bahnte sich in Bächen seinen Weg über meinen Körper.  Das gab es doch nicht! So
beschissen wie heute hatte ich mich wirklich schon lange nicht mehr gefühlt. Vom Kotzen erschöpft
ließ ich mich auf die kalten Fließen fallen, von wo ich auch augenblicklich wegdämmerte.  Ich
träumte wirr; verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Irgendwann bemerkte ich, dass ich unbequem
lag und mir das Bein abschnürte, aber ich hatte null Energie, um etwas dagegen zu tun. Von der
Ferne drang lautes Klopfen in mein Bewusstsein. Zunächst baute ich es in meinem Traum ein, dann
aber  erkannte  ich,  dass  offensichtlich  jemand  wie  besessen an meine  Wohnungstür  hämmerte.
„Dale, bist du da? Mach endlich auf! Ich mache mir Sorgen um Dich!“ Ich nahm die Stimme nur
verzerrt wahr und doch erkannte ich sie.  Es war Robert.  Er war also gekommen, um mit  mir zu
sprechen. Mein liebender, treu sorgender Bruder stand da draußen und wollte mit mir reden. Der
Mann, der meine Liebe fickte. Ich lachte bitter auf. Was war die Welt nicht ironisch? „Wenn du jetzt
nicht gleich aufmachst, trete ich die Tür ein!“ brüllte er. „Nein, tu´s nicht, ich komme ja schon…“,
murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm und versuchte, mich in Richtung Tür zu bewegen. Er
aber hörte mich nicht und brüllte weiter das ganze Treppenhaus zusammen. Nimm Dich zusammen,
Dale,  redete ich auf mich ein und kroch schwerfällig auf  den Eingang zu.  Ich versuchte,  mich
hochzuhieven, doch das war schwieriger, als ich dachte.  Irgendetwas stimmte nicht.  Es war nicht
nur das kribbelnde Bein. Nein – es war etwas anderes. Ich fühlte mich wie ein Hundertjähriger mit
Gicht. Bekackt und beschissen. Endlich kam die Tür in Griffweite. Meine zitternde Hand drehte mit
letzter Kraft den Türknauf nach rechts und als hätte er nur darauf gewartet, stemmte sich Robert von
Außen dagegen. Wie ein nasser Sack fiel ich hinter der Tür zu Boden, als er sich nun mit Gewalt
Zutritt zu meiner Wohnung verschaffte. Sofort stürzte er zu mir. Sein Gesicht sah besorgt aus. Ich
wollte ihn beruhigen, ihm sagen, dass alles in Ordnung war, konnte jedoch die Augen nicht lange
genug aufhalten, um mit ihm zu sprechen. Alles verschwamm nun zu einem einzigen Brei. „Dale,
was um Gottes Willen ist mit dir los?!“, schrie Robert. „du bist ja völlig am Ende!“. Ich murmelte
beschwichtigend in die Schwärze,  hinter der ich meinen Bruder vermutete.  „Nein…nein, sieht…
schlimmer aus… als… es ist. Mach dir keine Sorg………“. Das war das letzte, was ich von mir geben
konnte. Dann verschluckte mich die Dunkelheit.
Als ich erwachte, lag ich in einem Krankenhausbett. In der Vene meines rechten Armes steckte eine
grobe Nadel, durch die sich eine durchsichtige Flüssigkeit den Weg in meinen Körper bahnte. Sie
hatten mir ein unbequem starres Nachthemd angezogen und meinen Körper bis oben hin zugedeckt.
Ich fühlte mich mies, aber so mies wie vorhin ging es mir nicht mehr. Offensichtlich hatte ich den
Wein nicht vertragen. Der viele Alk, das wenige Essen – eine Kombination, die mir wohl endgültig
den Rest  gegeben hatte.  Schläfrig drehte ich den Kopf nach links.  Erst  jetzt  bemerkte ich, dass
neben mir jemand saß. Mein Bruder. Er schien zu dösen. Selbst in diesem Zustand war sein Gesicht
noch angespannt. Als ich ihn musterte, dämmerte es plötzlich wieder. Der Jobverlust, Susannah, das
neue Leben, das ich beginnen wollte. Tränen der Wut schossen in meine Augen und ich schämte
mich.  Was  zur  Hölle  sollte  ich  meinem Bruder  sagen,  wenn  er  aufwachte?  Etwa,  dass  ich
Alkoholiker war? War ich das überhaupt? Nervös kratzte ich mir die Stirn, sie fühlte sich heiß an.
Ich wusste es nicht  mit  Bestimmtheit.  Aber ich vermutete es.  Die Flaschen in meiner Wohnung
waren mittlerweile einfach zu viel für ein normales Feierabendmaß. Robert schlug die Augen auf.
Als er bemerkte, dass ich wach war, sprang er sofort auf. „Dale! Mensch! du bist ja wach! Wie geht
es dir?“, krächzte er noch etwas heiser vom Schlaf. Ich sagte nichts, sondern blinzelte nur. Ich war
gerührt von seiner Führsorge. Anscheinend hatte er hier die ganze Zeit gesessen, so verknittert wie
seine Kleidung aussah. Robert beugte sich über mich und drückte meinen Arm. „Du hast uns aber
vielleicht einen Schrecken eingejagt – weißt du das eigentlich?“. Ich nickte, unfähig, dazu etwas zu
sagen. Mittlerweile hatte sich ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet und ich befürchtete, beim
ersten Wort die Beherrschung zu verlieren und vor meinem Bruder in Tränen auszubrechen. Besorgt
runzelte dieser die Stirn – an diesem Tag sah er wirklich ein paar Jährchen älter aus als sonst. „Du
hast sicher mitbekommen, dass du eine Alkoholvergiftung hattest…“ Ich nickte. So etwas Ähnliches
hatte ich mir bereits gedacht. „Mit über drei Promille im Blut hätte das tödlich enden können…“,
fuhr er fort. „Sie haben dich sofort auf die Intensivstation gebracht und dir mehrere Infusionen zum
Verdünnen des Blutalkohols gegeben. „Das hier…“ – er blickte vorwurfsvoll auf die die Flasche mit
der durchsichtigen Flüssigkeit direkt über uns – „…ist übrigens auch eine.“ Ich schwieg betreten.
„Du bist schon drei Tage hier. Es war verdammt knapp.“ Ich schloss die Augen. Konnte das wirklich
wahr sein? War ich tatsächlich so kurz vor dem Abnippeln gewesen? Seltsam.  Am Abend zuvor
hatte ich es doch sogar noch selbst gewollt. Jetzt aber war ich fast froh, noch am Leben zu sein.
Robert ließ sich langsam wieder auf den Stuhl zurück gleiten. „Sag mal, willst du mir jetzt nicht
endlich sagen, was mit dir los ist? Wieso konnte ich dich über Tage nicht erreichen? Warum hast du
bei dem Treffen so komisch reagiert? Irgendetwas passt doch nicht.“ Ich wusste, dass jetzt der Punkt
gekommen war,  an dem ich Farbe  bekennen musste,  er  würde  keine  weiteren Ausreden mehr
dulden. Also entschloss ich mich für einen Teil  der Wahrheit.  Den Teil,  der ihn  nicht verletzen
würde. „Also gut Rob…“, seufzte ich. „Ich erzähle es dir.“ Erwartungsvoll sah mich mein Bruder an.
Ich schloss die Augen, wollte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, wenn er es erfuhr und ich in
seiner Wertigkeit wieder absinken würde. „Sam hat mich gefeuert! Schon vor ein paar Tagen. Das
ist es, was mich belastet.“ Robert schnaubte. „Und deswegen hast du Dich fast zu Tode gesoffen?
Dale,  verdammt! Das ist  doch hirnverbrannt! Das ist  nur ein  Job!“ „Ja! Ein Job, der immerhin
meine Miete bezahlt und mich über Wasser hält“, fuhr ich ihn an. „Ich brauche ihn! Du weißt, dass
ich keine großen Ersparnisse habe. Nicht so wie du. Es hat ja nicht jeder so leicht im Leben wie
mein Bruder, der Anwalt.“ „Hey!“, winkte er ab und stand abrupt auf. „Jetzt komm mir nicht so! Ich
muss ganz genauso für mein Geld arbeiten wie du! Nur gebe ich es eben nicht für meinen Suff aus!“
Ich erwiderte nichts. Er hatte ja Recht. Wir schwiegen betreten. „Und warum hat er Dich gefeuert?“,
wollte Robert wissen. „Ihr ward doch immer so gut befreundet?“ „Weil  ich einen Abgabetermin
verpasst  habe.“,  knirschte  ich.  „Einen  einzigen beschissenen Termin.“  Robert  kniff  die  Augen
zusammen und sog die Luft durch die Zähne. „Wegen einem Termin? Oh Mann. Das ist hart. Das ist
echt hart. Das gebe ich zu.“ Ich nickte, wieder fühlte ich, wie meine Augenwinkel feucht wurden.
Wann genau war ich eigentlich so eine verdammte Heulsuse geworden? Zitternd fuhr meine linke
Hand über die Augen, damit er es nicht sah. Er trat wieder näher an mein Bett heran. „Dale. Du
weißt, wie ich zu dem Thema Alkohol stehe. Ich habe dir das auch schon öfters gesagt, dass du dich
schon allein aufgrund Deiner Arbeit zusammenreißen müsstest. Jetzt hast du wohl dafür wohl die
endgültige Quittung bekommen.  Oder  warum hast  du diesen Termin sonst  verpasst,  wenn nicht
deswegen?“ Auffordernd sah er mich an. Ich hob hilflos die Schultern. Was sollte ich auch sonst
tun? Er kannte mich zu gut. Trotzdem musste ich ihm nicht auch noch die Genugtuung geben, es
offen auszusprechen.  „Und denkst  du nicht,  dass  er  dir  noch einmal  eine letzte Chance gibt?“
Entschieden  verneinte  ich.  Robert  sah  durch  mich  hindurch.  Schien  zu  überlegen.  Um den
peinlichen Moment zu überspielen und von mir abzulenken, räusperte ich mich und fragte nach
Susannah.  Sofort  kehrte  das  Strahlen  in  seine  angespannte  Mimik  zurück.  „Oh,  danke  der
Nachfrage. Es geht ihr gut! Die Heirat ist ja schon nächsten Samstag. Sie ist schon sehr aufgeregt.
Ich glaube, das Kleid hat sie schon fünfmal aus- und wieder angezogen, damit es auch ja richtig
sitzt. Sie isst nur noch Salat. Alles andere könnte ja dick machen.“ Seine Worte trafen mich ins Herz
und sofort  verfluchte  ich  es,  überhaupt  mit  dem Thema  angefangen  zu  haben.  Robert  guckte
verklärt, dann ging er zum Fenster. Mit dem Rücken zu mir gewandt fuhr er fort. „Weißt du, wir
hoffen wirklich beide, dass du nächste Woche bei unserer Hochzeit dabei sein kannst. Das wäre uns
wichtig.“ Alles in mir verkrampfte sich. Ich wusste ganz genau, was er nun von mir hören wollte.
Aber das zumindest war ich ihm wahrscheinlich schuldig, nachdem er mir das Leben gerettet hatte.
„Also gut…“, seufzte ich. „Ich weiß zwar nicht, wie es mir in einer Woche geht… Aber wenn es
gesundheitlich passt, bin ich natürlich bei Eurer Hochzeit dabei.“ Ich hätte würgen können, als ich
die Worte aussprach – trotzdem hatte ich keine Wahl.  Und vielleicht  würde ich ja irgendwann
wirklich mit  der Situation umgehen können. „Das ist  schön!“,  stieß Robert  aus und drehte sich
wieder  zu mir  um.  „Das bedeutet  mir  sehr  viel.  Und wegen Deiner  Probleme:  Wir  finden eine
Lösung, das verspreche ich dir.“ „Ach ja? Und welche?“, erwiderte ich skeptisch. „Am Besten, du
ziehst zuerst einmal zu uns…“, schlug er vor. „Wie bitte?“ Mir blieb fast die Spucke weg. „Wie zur
Hölle meinst du das?“ „Na, das ist doch ganz klar!“, grinste mein Bruder. „Du wohnst erst einmal
übergangsweise erstmal  bei  uns.  Was sagst du dazu? Das ist doch die perfekte Lösung! Und die
Miete für deine Wohnung lege ich dir für diese Zeit einfach aus – dann bist du zumindest schon
einmal von diesem Druck befreit. Du weiß ja, ich habe ein großes Haus und einen riesigen Garten.
Dort könntest du vielleicht wieder etwas Ruhe finden und dir klar werden, was du eigentlich willst.
Was hältst du davon?“ Ich musterte ihn. Er hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, was er mir da
gerade anbot. Trotzdem war mir klar, dass mir das Alleinsein im Moment nicht gut tat. Zu groß war
die  Gefahr,  mich wieder  zuzuschütten.  Und vielleicht  war  es  ja wirklich die  Chance  auf  eine
22
Kehrtwendung? Ein neues, besseres Leben. Die Aussicht war verlockend. „Ich weiß nicht, ob ich
das  so  einfach annehmen  kann“,  gab ich  zu  bedenken.  „Und  ob  das  deiner  Frau passt,  auch
nicht…“„Glaub mir,  Susannah hat  nichts dagegen…“,  wischte Robert meine Bedenken mit  einer
abwertenden Handbewegung weg.  „Und überhaupt: Du bist doch schließlich mein Bruder! Wenn
ich dir helfen kann, dann tue ich das!“, antwortete mein Bruder überzeugt,  fügte aber dann noch
hinzu: „Aber trotzdem,  eine Bedingung habe ich:  Falls du wirklich bei  uns einziehst,  trinkst  du
keinen Tropfen Alkohol mehr. Ist das klar? Sonst kannst du gleich wieder gehen. Du willst doch von
dem Teufelszeug loskommen oder nicht?“ Forschend hob er die rechte Augenbraue und fixierte
mich mit seinen tiefblauen Augen. Beinahe hätte ich aufgelacht. Natürlich hatte ich den Willen! Ich
wollte trocken sein! Ich wollte einen Roman schreiben und ich wollte verdammt noch einmal damit
klarkommen, dass mein Bruder mit  der Frau, die ich liebte,  zusammen war! Und das konnte ich
höchstwahrscheinlich nur,  wenn  ich  mich  der  Situation  stellte  –  eine  gewisse  Art  von
Aversionstherapie sozusagen. Also rang ich mir die Worte ab, die er so dringend von mir hören
wollte. „Ja, das möchte ich. Definitiv. Und deswegen nehme ich Dein Angebot auch an.

 

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